Heimatkunde
Andreas H. Apelt fasst in Worte, was Menschen alles widerfahren kann
Irmtraud Gutschke
Wie ein kunstvoll gewebter Teppich aus vielen Schicksalen ist dieser Roman von Andreas H. Apelt. Alle sind sie miteinander verflochten an einem Ort, den es wirklich gibt: Fürstlich Drehna. Tatsächlich lockt dort ein imposantes Wasserschloss mit einem schönen Park und inzwischen auch mit fürstlichem Hotelgenuss.
Aber der Autor wählt nicht diese Ansichtskartenperspektive. Mit der alten Elli Noack lässt er uns über einen Friedhof gehen, der keine Toten birgt, nur Steine. Die hat die Elli vor dem Braunkohlentagebau gerettet, ehe dieser das Dorf Presenchen verschlang. Das stählerne Ungeheuer mit seinen qietschenden Eimerketten nahm dort auch die „Deutsche Eiche“ mit, das Gasthaus, hinter dessen Tresen Elli früher stand. Was blieb, war eine „Mondlandschaft“.
Am Schluss des Buches sind 11 Orte aus der Umgebung aufgelistet, die zu DDR-Zeiten verschwanden. Was für Tragödien damit verbunden waren, sollte in den Hintergrund treten gegenüber der wirtschaftlichen Notwendigkeit. Bei der Lektüre dieses eindringlichen Buches musste ich an den Roman „Abschied von Matjora“ des russischen Schriftstellers Valentin Rasputin denken, wo ein sibirisches Dorf samt seiner Toten einem Staudamm weichen soll. Und auch der Roman „Sind wir ja gewohnt“ von Wassili Below kam mir in den Sinn, der das karge Leben auf einem Dorf zum Kontrast macht gegenüber den Verheißungen einer glücklichen Gesellschaft.
Hier zeigt das Titelbild eine kleine Bushaltestelle aus Holz. Davor eine leere Asphaltstraße, dahinter ein Feld. Ob dort überhaupt noch etwas fährt? Wie viele Orte dieser Art mag es gerade im Osten geben, wo doch blühende Landschaften versprochen waren? Da suchten viele das Weite, einige kamen zurück, andere blieben. Weil es doch Heimat ist.
„Heimat ist da , wo drei Dinge sind: unsere Erinnerungen, unsere Unschuld, unsere Toten. Doch wer will sich dafür interessieren? Heimat! Schon das Wort ist so alt, dass es keiner mehr versteht.“ Die Heimat, wie sie uns hier vor Augen tritt, ist voller Gräben und Schrunden. Nicht nur der Tagebau hat sie umgepflügt. Wechselvolle Vergangenheit hat im Leben der Menschen ihre Spuren hinterlassen. Unter jedem Dach ein Ach, sagte meine Mutter oft. Viele, an die hier erinnert wird, sind schon tot, ob gefallen an der Front oder gestorben im Altenheim. Roswitha, die Tochter von Elli Noack nahm sich 1945 nach einer Vergewaltigung durch russische Soldaten das Leben. Deren jüngerer Bruder kam vorher schon mit einer Behinderung in ein Nazi-„Pflegeheim“, wo er angeblich an einer Lungenentzündung starb. Verkehrsunfälle, Tod im Suff oder beim Versuch, die DDR über die Ostsee zu verlassen. Und die da leben treffen sich gern im „Hirsch“, wo wir ihrem Palaver zuhören.
„Man muss halt sehen, wo man bleibt“, sagt ein frischgebackener Versicherungsmakler. Und eine einstige Pionierleiterin will ihr Kind nun Kevin nennen. Die „neue Zeit“, während die alte doch nicht vorbei ist. Für jede seiner Gestalten hat der Autor einen eigenen Blick: ironisch oder mitfühlend, voller Trauer oder voll Achtung. Sie lieben, sie weinen, sie schimpfen, hadern mit ihrer Vergangenheit oder wollen sie verdrängen. Und dazwischen der alte Pfarrer Graustock, der sich vom Teufel verfolgt sieht, und sein jüngster Sohn, der als Kirchenmann Gutes zu tun gedenkt. Immer wieder neue Turbulenzen. Man könnte eine Fernsehserie daraus machen. Auch Linke, der einstige Abschnittsbevollmächtigte, der nun Polizeibeamter ist, bekommt zu tun.
Insofern bewahrheitet sich dann doch nicht, was das Foto auf dem Umschlag sagt. Tristesse? Von wegen, Leser dürfen eine turbulente Handlung erwarten. Mal fühlt man sich wie in einer Dorfposse und dann wieder wie in einem bitterernsten Trauerspiel. Noch viele Seiten könnte es so weitergehen. Aber der Roman muss sich runden. Also muss Buchsstein auf den Plan treten, emeritierter Professor für Deutsche Literatur aus den USA.
Um diese Gestalt schafft der Autor einen kunstvollen Wirbel, handelt es sich doch um den Großneffen von Samuel Buchsstein, dem „Trödlerjuden“, von dem nichts mehr geblieben war als eine Zigarrenkiste voller Knöpfe, Broschen und Schallen, die Elli bei sich verwahrt. „Jud“ – so seltsam es ist, das Wort macht im Gasthaus immer noch die Runde. Aber dann, auf Seite 220, begreifen wir endlich, was hinter dem Romantitel „Sechsunddreißig Seelen“ steckt.
Wie schön wäre es doch, wenn sechsunddreißig Gerechte die Welt retten könnten.
Das große Personenregister am Schluss vereint reale und fiktive Gestalten. Andreas H. Apelt ist in der Nähe von Drehna aufgewachsen, und hat bereits in zwei weiteren Büchern die Vorgeschichte des jetzt vorliegenden Romans erzählt. Der kann wohl für sich alleine stehen. Wobei sich der Autor wünscht, alle drei Bücher vereint in einem Schuber zu sehen.
Andreas H. Apelt: Sechsunddreißig Seelen. Roman. Mitteldeutscher Verlag, 303 S., geb., 28 €.