Willkommen in meinem Literatursalon
Irmtraud_Gutschke

Lesen macht glücklich, weil es uns sagt, wer wir sind und wer wir sein wollen, weil wir über uns hinauswachsen, in fremder Haut erleben dürfen, was uns sonst verschlossen bliebe. Heutzutage scheinen wir ja in Informationen zu ertrinken und haben doch das Gefühl, dass uns Wichtiges fehlt. Was ich suche, sind Bücher, die in diesem Sinne nachdenklich machen, ja auch solche, von denen ein Leuchten ausgeht. Viele Jahrzehnte habe ich als Literaturredakteurin mit Hunderten, ja Tausenden von Texten zu tun gehabt, auch selber Bücher geschrieben. Die Neugier auf Neues will ich hier mit anderen teilen.

„literatursalon.online“: Stellen Sie sich vor, wir sind zusammen in einem schönen Saal, und Sie möchten von mir wissen, was sich zu lesen lohnt. Was interessiert Sie denn, frage ich zurück. Politische Sachbücher? Gute Romane und Erzählungen? Spannende Krimis? Bildbände, die man immer wieder betrachten möchte? Mit meiner Auswahl lade ich Sie zu Ihren eigenen Entdeckungen ein.

Irmtraud Gutschke

Wenn Sie mehr über mich erfahren wollen - meine Biografie, meine Bücher und Veranstaltungen - , schauen Sie auf meine Webseite www.irmtraud-gutschke.de

Ulla Lenze: Das Wohlbefinden

„Sollen wir also die Nerven behalten“?

„Das Wohlbefinden“: Ulla Lenze begleitet drei Frauen von 1907 bis 2020 durch das „brutale Jetzt“  

Irmtraud Gutschke

Der Titel bleibt einem nach der Lektüre wie ein Mantra. Umso mehr, wenn er Misstrauen weckt. Wohlbefinden – wer sucht es  nicht und wird frustriert im Glauben, darauf Anspruch zu haben. Wie vollmundig wird es uns versprochen, wenn wir für Reisen, Yogakurse, Duschgel Geld ausgeben.

 „Hey, ich hab zwar bald kein Zuhause mehr, aber, Leute, einmal tief ein- und ausatmen, und ich bin zumindest in meiner Mitte“, ruft uns die 34-jährige Vanessa Schellmann zu Beginn des Romans entgegen. „Nee schon klar, sie versprechen dir keine Wohnung, aber jene Balance und Power, mit der du genauso ein Arschloch werden kannst wie dein Vermieter, der dir wegen Eigenbedarf kündigt.“

Kraftvolle Prosa. In sechs Wochen muss Vanessa aus ihrer Wohnung raus. Als „Contentmanagerin für ein Internetshoppingportal“ verdient sie 2400 Euro brutto. 950 Euro ist ihr Limit für die Miete. Dafür findet sie in Berlin nichts, und auch das schicke Quartier in Beelitz, das sie zu Beginn des Romans besichtigt, ist zu teuer. Aber sie erinnert sich, dass ihre Urgroßmutter, Johanna Schellmann, über diesen Ort   geschrieben hat. Und der Makler, welch Zufall, hat noch ein Manuskript von ihr, weil sein Vater sie in späten Jahren pflegte.

Beelitzer Heilstätten: Der Zauber des Romans wurzelt an diesem besonderen Ort, für den es schon Museumsführungen gibt. Der einst im Licht des Fortschritt strahlte und heute, teils in Ruinen, etwas  geheimnisvoll Gespenstisches hat. In 36 Kapiteln lässt Ulla Lenze drei Zeitebenen miteinander wechseln: 1907/1908, als es in Beelitz eine Arbeiter-Lungenheilstätte gab, 1967, als die alternde Schriftstellerin Johanna Schellmann in West-Berlin um früheren Ruhm ringt, und 2020, als Vanessa zwischen zwei Corona-Lockdowns fast den Boden unter den Füßen verliert. Weibliche Bedrängnisse über die Zeiten. Dass der Roman so spannend ist, liegt indes an einer dritten Frauengestalt: Anna Brenner. An Tuberkulose erkrankt wie so viele, ist die Fabrikarbeiterin 1907/08 Patientin in Beelitz und verblüfft den Chefarzt durch ihre Hellsichtigkeit. Die wird von Ulla Lenze – wie verwunderlich – nicht in Abrede gestellt. Im Roman gibt es mehrere entsprechende Episoden, gipfelnd darin, dass Anna Professor Blomberg vom Krebs befreit, nachdem sie am eigenen Körper die Nebenwirkung des Röntgens spürte.

Rationales und Spirituelles – der Autorin ging es wohl um dieses  Spannungsfeld: „Wie aus der Zukunft“ waren die Heilstätten im Deutschen Kaiserreich. „Elektrische Autos, Fernwärme, heißes Wasser aus dem Hahn“. Erstaunlich auch das Konzept, den Ausgebeuteten auf Kosten der Versicherung für gewisse Zeit das zu geben, was Reiche im Überfluss hatten: gutes Essen, Ruhe, frische Luft – Wohlbefinden, denn Medikamente gegen Tuberkulose gab es noch nicht. Johannas  Ehemann, Dr. Clemens Schellmann, forscht (noch erfolglos) am Tuberkelbakterium. Professor Blomberg will die Seele heilen. Vor dem Hintergrund der damals populären okkulten Bewegungen findet Anna sein Interesse.

Und Johanna ist umso mehr von ihr fasziniert, weil ihr die materialistische Rechthaberei ihres Mannes missfällt. Eingezwängt ins Korsett der Konventionen, sieht sie in der anderen Frau eine Freiheit, die sie gern hätte. Und die, denkt man beim Lesen, auch Vanessa abgeht. So aufgerieben ist sie zwischen Anforderung und Anspruch, so geplagt vom Empfinden, gegenüber Männern zurückgesetzt zu sein. Wenige Andeutungen genügen der Autorin, das Empörende dieser Situation vor Augen zu führen.

Und welche Rolle spielt Anna dabei? Warum, so fragte ich mich beim Lesen, fasziniert sie mich so? Auch für Ulla Lenze hat sie ja diesen Reiz. Aus der Armut kommend, will sie nicht dorthin zurück und wird  vom Chefarzt zur Begutachtung zu einem Kollegen nach München geschickt, der Anna für eine Séance engagiert. Falscher Zauber – sie verlangt  Bezahlung. Den Parapsychologen Prof. Albert von Schrenck-Notzing gab es wirklich, und bei Rudolf Steiner, dem Begründer der Anthroposophie, ist Anna gar kurzzeitig im Dienst gewesen. Entschieden grenzt sie sich von diesen Männern ab, indem sie sich auf den „Willen Gottes“ beruft.

Dass Anna „mit etwas Höherem verbunden“ sei, meint Prof. Blomberg. Für Dr. Schellmann indes ist ihr Selbstbewusstsein unerträglich. Seine Frau holt Anna ins Haus, und es kommt zur Katastrophe. Davon handelt „Die Annageschichte“, das lange verschollene Manuskript ihrer Urgroßmutter, das Vanessa zu lesen bekommt.

Was ihr zu denken gibt, das schwingt im Text, ohne dass es benannt werden könnte. „Der Körper heile von allein, wenn man es ihm erlaube, wenn er zur Ruhe käme.“ „Das Ungewöhnliche ist gewöhnlich. Das Gewöhnliche ist ungewöhnlich“. „Der Körper ist bereits übersinnlich … alles um uns herum ist Materie und Geist zugleich.“ – Sowas findest du im Netz zuhauf. Dabei hatte es Anna doch viel schwerer als Vanessa, die sich abstrampelte und im Selbstmitleid strandete. „Ist doch eigentlich egal, … was mit mir und meinem Leben geschieht. Dass ich die Wohnung verliere. Dass ich sterbe. Dass ich meinen Leben lang nur Scheißjobs haben werde.“

Wie sie durch die Gedanken an Anna zur Ruhe kommt, überlegt man. „Sollen wir also die Nerven behalten, während wir aus den Wohnungen verdrängt werden, wir unsere Jobs verlieren?“ Sollen wir! Wie es gelingt, sich im Selbst behütet zu fühlen, dafür gibt es keine Gebrauchsanweisung. Immerhin beschenkt die Autorin Vanessa mit einer neuen Bleibe auf Zeit und der Kraft, sich mit Unwägbarkeiten abzufinden. Lernen, sich nicht selber noch verrückt zu machen. Gut zu sich sein. Mehr an Gewissheit kann Ulla Lenze nicht bieten, ohne das „brutale Jetzt“ kleinzureden.

Ulla Lenze: Das Wohlbefinden. Roman. Klett-Cotta, 331 S., geb., 25 €.

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