Was würde denn eine russische Niederlage bedeuten?
Erich Vad sieht Nachholebedarf in deutscher Wehrhaftigkeit, aber auch in deutscher Diplomatie
Irmtraud Gutschke
„Wir befinden uns an einem Scheideweg, , an dem es entweder noch sehr viel schlimmer wird oder besser kommen kann.“ – Ein Alarmruf soll dieses Buch sein, vielleicht nicht so sehr an uns ohnehin schon beunruhigte Leser gerichtet, als an diejenigen an den Hebeln der Macht. Brigadegeneral a.D. Dr. Erich Vad kann für sich beanspruchen, eine maßgebliche Stimme zu sein. Schließlich war er von 2006 bis 2013 Sekretär des Bundessicherheitsrats und militärpolitischer Berater von Angela Merkel. Als CDU-Mann kann er das für Olaf Scholz nicht sein. Trotzdem ist zu hoffen, dass im Bundeskanzleramt dieses Buch gelesen wird.
Präzise und entschieden, mit dem Wissen eines Militärs geschrieben, steuert es auf zwei Schlussfolgerungen hin, die sich, oberflächlich gesehen, widersprechen: die entschiedene Aufforderung zu Verhandlungen, um den Ukraine-Krieg zu beenden, und der ebenso wortgewaltige Ruf, die Verteidigungsfähigkeit unseres Landes zu stärken.
Was letzteres betrifft, läuft der Autor momentan offene Türen ein, wenn man die Aktivitäten von Minister Pistorius vor Augen hat. Die Bundesregierung zu überreden, dass sie sich für Verhandlungen mit Russland engagiert, dürfte schwieriger sein. Aber der Autor hat wohl eher auch die Zeit nach der Ampelkoalition im Auge. Er liefert kaum anfechtbare Analysen, wozu er als gestandener Militär ja fähig ist, und Argumente, warum russlandfeindliche deutsche Politiker diese Kröte schlucken müssen. Also darf er deren Russophobie nicht brüskieren, muss ihnen diesbezüglich auch mal Zucker geben, ihnen aber dann auch erklären, wie dieser Krieg entstanden ist und dass es sich eben nicht um einen Kampf des starken Russland gegen die arme kleine Ukraine handelt, sondern um einen Stellvertreterkrieg, in dem die Interessen der USA auf dem europäischen Kontinent verteidigt werden sollen. Da ist die Erinnerung an die Streitschrift „Nationale Interessen“ des SPD-Manns Klaus von Dohnanyi gar nicht mal so weit hergeholt. Dass nationale Interessen auch für künftige US-Politik eine zunehmende Rolle spielen könnten, dürften selbst hartgesottene Transatlantiker nicht bestreiten.
Unsereinem hat der Autor detailliertes militärisches Fachwissen voraus, was die moderne Kriegsführung betrifft. Soldaten, Söldner, Schattenarmeen, Grenzüberschreitung im Cyberspace, Kampf im All – und was geschieht, wenn Künstliche Intelligenz auf breiter Front zum Einsatz kommt? Gruseln kann es einen, was heute alles kriegstechnisch möglich ist. Zumal, wenn man, wie ich, mit dem Lied „Kleine weiße Friedenstaube“ groß geworden ist und im Gedanken an Freundschaft mit der Sowjetunion.
Mag mich der Brigadegeneral diesbezüglich auslachen, wir sind einfach verschieden sozialisiert. „Abschreckung bedeutet Sicherheit“? Also Wettrüsten auf Teufel komm raus? Andererseits, was wäre von Nordkorea übrig, wenn sie dort keine Atomwaffen hätten?
Dass Europa mit einer „fundamental neuen Sicherheitslage konfrontiert“ ist, da ist dem Autor nicht zu widersprechen. Auch dass diese eine andere ist als in den USA.
Putin als „Monster“ anzusehen, wäre das Ende von Politik. „Wenn deutsche Politiker und Medien Putin mit emotionalen Aussagen immer wieder verteufeln, stellen sie sich im Grunde selbst ein Bein.“ Die Bevölkerung wird es ihnen als Schwäche ankreiden und ihnen das Vertrauen entziehen, wenn sie nach einer plötzlichen 180-Grad-Wende doch anfangen, über Friedensverhandlungen nachzudenken. Und auch wenn es sich in uns sträubt: Um Verhandlungen werden wir nicht herumkommen.“ Dass eine militärische Lösung zugunsten der Ukraine „höchst unwahrscheinlich“ sei, habe schon im September 2022 der Generalstabschef der US-Streitkräfte öffentlich gesagt.
Warum die deutschen Waffenlieferungen dem Ukraine-Krieg keine andere Richtung gegeben können, wird dargestellt. Und was noch niemand vor Erich Vad so klar zu bedenken gab: Was wären denn die Konsequenzen einer militärischen Niederlage Russlands? Da sei es der deutschen Außenministerin geraten (so sie überhaupt zum Lesen kommt), sich zumindest das Kapitel „Spielverderber Putin“ durchzulesen.
Natürlich muss Erich Vad den russischen Präsidenten auch immer wieder mit kritischen Worten bedenken. Das ist sein Gesprächskanal zur Macht und in gewisser Weise wohl auch seine Meinung. In Zeiten des Kalten Krieges aufgewachsen, stand er, wie gesagt, im Systemkonflikt nicht auf meiner Seite. Umso mehr schätze ich seinen pragmatischen Umgang mit realen geopolitischen Konflikten, die er klar zu analysieren versteht. Schließlich ist auch China mit im Spiel. Dass Deutschland mit einer starken Regierung sein politisches Gewicht einbringen und mit Russland wie auch mit China in Verhandlung treten sollte, klingt gut. Aber haben wir denn überhaupt noch dieses Gewicht? Bestärken wir es, wenn wir kräftig aufrüsten, wie Erich Vad meint? Vielleicht ja. Aber was würde das innenpolitisch bedeuten? Und die wichtigste Frage: Wird durch allgemeine Aufrüstung die Welt sicherer oder werden ohnehin Reiche nur immer reicher werden?
Erich Vad: Abschreckend oder erschreckend? Europa ohne Sicherheit. Westend Verlag, 238 S., geb., 24 €.