Willkommen in meinem Literatursalon
Irmtraud_Gutschke

Lesen macht glücklich, weil es uns sagt, wer wir sind und wer wir sein wollen, weil wir über uns hinauswachsen, in fremder Haut erleben dürfen, was uns sonst verschlossen bliebe. Heutzutage scheinen wir ja in Informationen zu ertrinken und haben doch das Gefühl, dass uns Wichtiges fehlt. Was ich suche, sind Bücher, die in diesem Sinne nachdenklich machen, ja auch solche, von denen ein Leuchten ausgeht. Viele Jahrzehnte habe ich als Literaturredakteurin mit Hunderten, ja Tausenden von Texten zu tun gehabt, auch selber Bücher geschrieben. Die Neugier auf Neues will ich hier mit anderen teilen.

„literatursalon.online“: Stellen Sie sich vor, wir sind zusammen in einem schönen Saal, und Sie möchten von mir wissen, was sich zu lesen lohnt. Was interessiert Sie denn, frage ich zurück. Politische Sachbücher? Gute Romane und Erzählungen? Spannende Krimis? Bildbände, die man immer wieder betrachten möchte? Mit meiner Auswahl lade ich Sie zu Ihren eigenen Entdeckungen ein.

Irmtraud Gutschke

Wenn Sie mehr über mich erfahren wollen - meine Biografie, meine Bücher und Veranstaltungen - , schauen Sie auf meine Webseite www.irmtraud-gutschke.de

Birk Meinhardt: Abkehr

„Ich rieche jede Propaganda“

„Abkehr“: Birk Meinhardt ist ohne Illusion, streitbar und gefasst

Was ist nur mit den Ostdeutschen los? Viel grundsätzlicher und streitbarer beantwortet Birk Meinhardt diese Frage, als es Dirk Oschmann und Steffen Mau in ihren (auch von mir) hochgelobten Büchern taten. Sie wollten, dass ihre kritischen Wortmeldungen medial nicht gleich abgeschmettert würden, dass sie in Kreisen „politischer Entscheider“ Gehör fänden. Mit ihren Veröffentlichungen  bei Ullstein und Suhrkamp kamen sie auf Bestsellerlisten. Birk Meinhardt hat seine beiden Bände „Brüder und Schwestern“ 2013 und 2017 auch erfolgreich bei Hanser untergebracht und wurde mit ersterem sogar für den Preis der Leipziger Buchmesse nominiert. Doch den Roman „Abkehr“ (online zu bestellen) veröffentlichte er auf eigene Faust –  „Vabanque“ nennt er seinen Verlag.

„Abkehr. Ein Hafttagebuch“: Erik Werchow (man konnte ihn aus den Romanen „Brüder und Schwestern“ kennen) wurde verhaftet wegen „Verunglimpfung des Staates und seiner Symbole“. Dass nach Paragraph 90 a StGB dafür tatsächlich eine Freiheitsstrafe von bis zu drei Jahren möglich ist, wusste ich vorher nicht. Machtsysteme schützen sich – umso rigider, wenn sie in einer Krise sind. Und die DDR soll ein „Unrechtsstaat“ gewesen sein, weil sie einen ähnlichen Paragraphen 220 hatte?

Was hat Erik Werchow getan? Auf geschickte Weise lässt uns der Autor erstmal im Dunkeln tappen. „Zweitausend Euro hat mir der Maskenbildner berechnet.“ Ein Gipsabdruck des eigenen Gesichts – wie kann er dermaßen provozieren? Indem man ihn abnimmt, sendet man ein Signal: Ich bin ich, unverfügbar für euch, mit meinem eigenen Blick auf die Welt. 

Wie das inmitten von hemmungslosem Individualismus verstört, gibt zu denken. Ist auch dieser Individualismus vielleicht eine Maske? Es verstecken sich dahinter doch gedemütigte Menschen, ausgelaugt und von Schuldgefühlen geplagt, den fremden, nun schon verinnerlichten Anforderungen nicht zu genügen. „Wer bin ich? Sie sagen mir auch, ich trüge die Tage des Unglücks gleichmütig, lächelnd und stolz, wie einer, der Siegen gewohnt ist.“ An diese Worte Dietrich Bonhoeffers musste ich beim Lesen denken, denn Erik Werchow ist nicht auf Mitleid aus.

Vom 6. Oktober bis 12. November schreibt er beharrlich in sein Tagebuch – auch in der Isolationszelle. Dass im deutschen Strafvollzug sowas Dunkles aus Gummi erlaubt ist, fast möchte ich es nicht glauben. Ja, auch wer wissen will, wie es in Haftanstalten zugeht, kommt hier auf seine Kosten. Prägnant und mit leichter Ironie führt Birk Meinhardt verschiedene Charaktere von Häftlingen und Vollzugsbeamten vor, auch einen Rechtsanwalt, der gut lachen hat. Eine Stütze ist für Erik ein Russlanddeutscher namens Genja, so ein alter Bärtiger, der von Dostojewski schwärmt und über seine sibirischen Erlebnisse schreibt.

Auch er bringt ja seine Erinnerungen zu Papier: Wie er 1989/90 „das Neue wie einen warmen Regen empfangen“ wollte und frustriert wurde. „Wir brauchten nicht überrannt zu werden. Wir legten uns von allein nieder.“ Dabei hatte er immer gewusst, was „kapitalistisches System“ bedeutet, doch lange gebraucht, es mal wieder laut zu sagen. Wie er sich fremdem Wortgebrauch anpasste, dafür schämte er sich später. Wie er sich davon frei machte, gab ihm Kraft. Die Verhältnisse zu durchschauen und benennen zu können, empfindet er nun als „Riesenbonus …, nicht trotz, sondern wegen meiner Erziehung“. Man nehme es als Überlegenheit: „Ich rieche jede Propaganda drei Meilen gegen den Wind.“

„Abkehr“: Jüngst erlebte sie ein Reporter der „Zeit“ im thüringischen Ziegenrück, wo die AfD bei den Europawahlen im Juni auf 48 Prozent der Stimmen kam. Rührend geradezu, wie er auf drei Zeitungsseiten die „Problemzonen Ost“ ergründen wollte. Nur wegen der bevorstehenden Landtagswahlen reiste da jemand aus Hamburg an – das wussten die Leute und ließen ihn abblitzen in aller Freundlichkeit.

Wer den rätselhaften „Osten“ begreifen will, lese dieses Buch, in dem auf präzise Weise ebenso der „Westen“ beschrieben ist. Wenn es nicht so ernst wäre, könnte man darüber lachen, wie Politik und Medien – wirklich immer ganz unabsichtlich? – die AfD bestärken, die sie doch bekämpfen wollen. Wie wenig dialektisches Denken da vorhanden ist und welcher Hochmut, der bekanntlich …

Zugegeben, das wünsche ich mir nicht. Jegliche „Ungeduld“, wie im gleichnamigen Roman von Juri Trifonow dargestellt, fordert Menschenopfer. Das findet sich auch schon in Dostojewskis „Dämonen“, die Erik Werchow natürlich kennt ebenso wie Hermann Kants „Der Aufenthalt“.

Eingängige Prosa, ausgefeilt zu eigenem Stil. In seinem Tagebuch hat der Ich-Erzähler „jede Etappe durchlaufen. Die des Anschmiegens und die des Niederkniens. Die der ausbrechenden Scham. Die des Aufbegehrens und die der manischen Gegnerschaft. Die des Verachtens und die des Empfindens purer Lächerlichkeit“. Als „Maskenmann“ findet er „draußen“ Nachahmer. Er hört von Panzern und von Wasserwerfern auf der Straße, kommt frei, weil Gefängniszellen gebraucht werden. „Eine Geschichte, so wahr, wie eine Geschichte sein kann, die in naher Zukunft spielt“, sagt der Klappentext. Dass ich  das Buch nicht als Dystopie lese, gibt mir zu denken. Wie angreifbar Demokratie ist, welche Repressionen möglich sind, sollte einem vor Augen stehen.  

Dass der Autor angesichts dessen nicht in polemischen Alarmismus verfällt, verstärkt die Wirkung des Buches. Stattdessen: „Gefaßtsein. Hatte man diesen Zustand erstmal erreicht, begab man sich ruhigen Schrittes zum See, beobachtete die Wellen beim Schaukeln und die Wildgänse beim Grasrupfen und war dabei nicht ohne Würde.“ Eskapismus? Nein, Einsicht in historische Prozesse, in denen mit Vernunft zu agieren immerhin besser ist, als in ohnmächtiger Wut zu erstarren.

Birk Meinhardt: Abkehr. Ein Hafttagebuch. Vabanque Verlag, 282 S., br., 22 €.

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