„Es war, als wüsste er Dinge“
Kein Krimi, aber doch ein Detektivroman: „Die Seele aller Zufälle“ von Fabio Stassi
Irmtraud Gutschke
Ein weiterer Band aus dem starken Italien-Programm von Edition Converso: Schon die dritte Auflage erlebte dieser Roman seit dem Frühjahr und steht seitdem auf der Krimibestenliste: Denn so eine originelle Idee wie Fabio Stassi mit seinem Detektiv hatte noch kein Schriftsteller zuvor. Sein Protagonist ist nämlich „Bibliotherapeut“. Das heißt, er empfiehlt seinen Patienten Lektüre, damit sie ihre Lebensprobleme lösen. Auf andere Weise hat er also ebenso viel mit Literatur zu tun wie der Autor, der als Direktor der Bibliothek für orientalische Studien in der Universität „La Sapienza“ in Rom seinen Vince Corso in Gedanken begleitet. Und ihn vielleicht auch ein bisschen beneidet, wie er entspannt durch die Stadt flaniert mit Django, seinem Hund.
Der hat in Stassis vorigem Roman, „Ich töte wen ich will“, leblos auf dem Teppich gelegen. Ein Giftanschlag? Während Django in der Tierklinik ist, konnten wir mit Vince Corso Rom erkunden und staunen, wie der belesene Detektiv auf Schritt und Tritt seltsamen Morden begegnete, die alle literarische Parallelen zu haben schienen. Weil er immer an Ort und Stelle war, geriet er sogar selbst in Verdacht.
Im neuen Buch, „Die Seele aller Zufälle“, geht es nicht so blutig zu. Aber das Rätsel, das Vince Corso zu lösen hat, ist knifflig genug und könnte in gewisser Weise jeden betreffen. Es ist ein humaner, gütiger Grundton im Buch. Denn die Menschen, die in Vince Corsos Dachbodenwohnung kommen, sind alle mit Kummer beladen. Ganz unterschiedlich, oft seltsam, doch er nimmt jegliche Probleme ernst. Vielleicht wollen die Unglücklichen auch nur, dass ihnen jemand mal ruhig zuhört, verständnisvoll, ohne zu urteilen. Was alles Menschen widerfahren kann, wie verschieden sie ihre Identität definieren – allein schon diese Ebene des Romans ist interessant.
Da erleben wir eine Wahrsagerin, der die Vorausschau abhandenkam, eine Professorin, die ständig ihr Handy verlegt – nun kann sie ihre Panik wenigstens benennen („Nomophobie“ – No Mobile Phobia), eine, die unter ihrer Launenhaftigkeit leidet, eine andere, die sich in ihren Erinnerungen gefangen fühlt, eine Schriftstellerin, die endlich mal einen Bestseller schreiben will …
Und dann hat sich der Autor noch eine nicht mehr junge, aber überaus anziehende Frau vorgestellt, die aus Sorge um ihren älteren Bruder in Vince Corsos Mansarde erscheint. Was kann sie tun, damit er nicht sein Gedächtnis verliert? „Andauernd füllt er Hefte mit unverständlichen Alphabeten. Er liebte die Literatur und rühmte sich, Dichter aus mindestens sieben verschiedenen Ländern im Original lesen zu können.“ Doch inzwischen wiederholt er immer wieder dieselben „Sätze, die keinerlei Verbindung miteinander haben … Sie ähneln einem sinnlosen Kinderreim, der mit ein paar Flüchen durchsetzt ist“. Fände sie das Buch, aus dem sie stammen, hofft sie, würde sie dem Bruder helfen können.
„Die Hand der Zeit löscht alle Spuren.“ Vince Corso aber muss die Spuren finden. Etwas Verborgenes, Verschüttetes hat er auszugraben, etwas für einen Menschen ungemein Wichtiges: Erinnerung.
So einfach wird es nicht sein, sei verraten. Nicht einmal mit einem literarischen Puzzlespiel ist es getan. Wieder lässt uns der Autor in die quirlige Atmosphäre Roms eintauchen – ebenso wie in das Gemüt eines Menschen, der detailversessen im Gelesenen lebt. Was wäre, wenn auch er einmal sein Wissen verlieren würde, hat sich der Autor vielleicht beim Schreiben gefragt. „Als würde man ein Leben lang einen Schatz zusammentragen und am Ende den Schlüssel für den Tresor vergessen.“
Wie der alte Mann im Buch immer mal wieder glucksend lacht, scheint es ihm allerdings gar nicht so schlecht zu gehen. Kann es sein, dass er alle auf den Arm nimmt, dass es tatsächlich einen Tresorschlüssel gibt, den er versteckt hat in seiner geradezu labyrinthischen Bibliothek? „Es war, als wüsste er Dinge …“ Wie Stassis voriger Roman steckt auch dieser voller Spuren, die der Detektiv intuitiv, zufällig entdeckt und uns dabei immer wieder zu literarischen Entdeckungen animiert. Verrätselt, mysteriös, spielerisch, kommt der Text zu einem überraschenden Ende, das sogar etwas romantisch Wohltuendes hat.
Und im Anhang finden sich noch zehn Seiten mit Empfehlungen von Büchern, die einem helfen könnten, die Wirklichkeit und sich selbst zu durchschauen. Denn: „Im Grunde gibt es keinen hellsichtigeren und schärferen Blick als den eines Lesers.“
Fabio Stassi: Die Seele aller Zufälle. Detektivroman. Aus dem Italienischen von Annette Kopetzki. Edition Converso, 282 S., geb.,
24 €.