„Herkunft macht stolz“
Irmtraud Gutschke
„Ich fühle mich noch zu jung, um Rückschau auf mein Leben zu halten“, heißt es auf Seite 279. Hellmuth Henneberg, gerade mal knapp im Rentenalter, hat es dennoch getan. Weil es gut tut, das eigenen Leben Revue passieren zu lassen und weil er wohl jetzt endlich Zeit dazu hat. Man muss ja tätig bleiben und will auch anderen – der Familie, den Freunden und Bekannten – etwas geben. Freilich, das sei auch jenen gesagt, die sich mit ähnlichen Gedanken tragen: Mit den eigenen Lebenserinnerungen, so interessant sie sein mögen, kommt man bei großen Verlagen schwer an, und viele müssen die Publikation auch selbst bezahlen. Wer sich indes keine hohen Verkaufszahlen erhofft, wird den Schritt nicht bereuen.
Und Hellmuth Henneberg ist ja auch nicht irgendwer. Auch wenn manche ihn „nur“ als Fernsehgärtner aus der rbb-Serie „Gartenzeit“ kennen. Die lief immerhin zehn Jahre im ORB, wo er auch das Umweltmagazin „Ozon“ moderierte. Er arbeitet weiter als Moderator, gestaltete eigene musikalisch-literarische Programme. Und schreibt. „Alle meine Leben“ ist sein zwölftes Buch.
Die Eltern – Vater Schauspieler (Bilder zeigen ihn in vielen Rollen), die Mutter eine bekannte Fernsehansagerin in der DDR – haben ihm manches auf seinem Weg mitgegeben. Der Tod der Mutter im November 2022 mag den Entschluss bekräftigt haben, das eigene Leben schreibend Revue passieren zu lassen. Doch das fiel ihm, wie er bekennt nicht leicht. Er musste sich erinnern: So gilt ein großer Teil ds Buches seinem Werdegang in der DDR: der Schulzeit, dem Dienst in der NVA, dem Journalistik-Studium (zuvor absolvierte er ein Volontariat in einer Betriebszeitung, das ihm auch später zupass kam), der Arbeit schließlich beim Fernsehehen der DDR. Dass da Konflikte nicht ausblieben, lässt sich denken. Hellmuth Henneberg ließ sich nicht gängeln, auch später nicht.
Ab September 1989 kam er zur Jugendsendung „ELF99“. Im „Ostdeutschen Rundfunk Brandenburg wurde er ab 1992 Redaktionsleiter für politische Gesprächssendungen. Dass er dort die legendären Interviews „Zur Person“ von Günter Gaus betreute, wäre eines Buches allein schon wert gewesen. Wen hat er da nicht alles kennengelernt. Überhaupt ist im fünfseitigen Personenregister ein Stück DDR- und Weltgeschichte verborgen.
Er hatte wohl auch Glück, was ihm durchaus bewusst ist. „Von Günter Gaus habe ich versucht zu lernen, dass das, was man für richtig hält, nicht stimmt, dass es ganz anders ist“, sagt er im hier abgedruckte Interview mit Burga Kalinowski. „Und dass es Sinn macht, Dinge, die verbreitet werden und für richtig gehalten werden, zu hinterfragen, misstrauisch zu sein …“ Interessant: Auch Gaus hat sich wohl verändert in diesen 13 Jahren. man lernt ja hinzu bei solchen Gesprächen. Ja, man kann den Autor wohl wirklich beneiden um seine Nähe zu Günter Gaus. Hennebergs Fernsehfeature „Erlauben Sie eine letzte Frage“ (2004) war dann schon ein Rückblick. Denn im gleichen Jahr ist Gaus an Krebs gestorben.
„Ich habe kein Leben der Extreme geführt, ich bin nie dem Tod von der Schippe gesprungen, habe nie Hunger gelitten …“ Kein missmutiger, geknickter Mensch kommt einem beim Lesen entgegen, sondern ein starker und eigentlich auch glücklicher. Ein Höhepunkt der Lektüre war für mich ein Text, den er 1997 für eine Veranstaltung im Rahmen der Hannover-Messe verfasste. Ein westdeutsches Publikum erstaunte er wohl mit der Feststellung, dass es für ihn ein Vorteil sei, aus dem Osten Deutschlands zu stammen. Des Erfahrungsvorsprungs wegen. „Herkunft macht stolz“, sagt er da und dass das Ende der DDR die politische Klasse hätte misstrauisch hätte misstrauisch machen sollen. Denn das „Ende einer Epoche“ kann eintreten, auch wenn man es bis zuletzt noch für unglaublich hält.
Hellmut Henneberg: Alle meine Leben. Dokumente eines Ossis. Verlag copy.worXX, 295 S., br., 19,90 €.