Was gegen Frust und Ärger hilft
Zum 225. Geburtstag Puschkins: Briefe aus Boldino, wo er die Quarantäne-Zeit produktiv zu nutzen wusste
Irmtraud Gutschke
2024 ist ein Puschkin-Jahr. In Russland, wo der 225. Geburtstag des Dichters Anlass ist für vielerlei Festivitäten. Hierzulande merkt man davon kaum etwas. Der russische Überfall auf die Ukraine wird ja auch Künstlern zur Last gelegt, die damit überhaupt nichts zu tun haben. Und in der Ukraine, die zum Zarenreich ebenso gehörte wie zur Sowjetunion, wird der Erinnerung an eine gemeinsame Kultur der Kampf angesagt. Denkmäler werden geschleift, auch für Alexander Sergejewitsch Puschkin, der bekanntlich Russlands berühmtester Dichter war.
Über 700 Gedichte und eine Fülle von Erzählungen, Dramen und Kurzgeschichten hat er in seiner kurzen Schaffenszeit verfasst. Mehr als 800 Briefe stammen aus seiner Feder. Jedes Kind in seiner Heimat kennt die Märchen, die er bearbeitete. Der deutsche Buchmarkt nimmt indes aktuell von Puschkin keine Notiz. Schließlich ist ja einiges von ihm im Handel, und sei es antiquarisch. Das einzige „Neue“ ist ein Bändchen von 2022, das man vor dem Hintergrund von „Corona“ lesen konnte: „Puschkin in Quarantäne“. Nehmen wir es als Beitrag zum Puschkin-Jubiläum und feiern wir es, wie es sich gehört. Mit vielen Handzeichnungen des Dichters ausgestattet, beleuchtet es eine interessante Episode aus seinem Leben: sehr produktiv und zugleich voller Unruhe.
Dass Puschkin im August 1830 ins Dorf Boldino im Gouvernement Nishnij Nowgorod aufbrach (drei Tage dauerte die Kutschfahrt), hatte ökonomische Gründe. Ständig in Geldnöten, stand er unter dem Druck seiner künftigen Schwiegermutter. Zwar konnte er sich mit seiner Angebeteten Natalja Gontscharowa verloben, aber deren Familie war verarmt und versuchte, ihm Geld abzupressen. Obgleich sein Vater ein Geizkragen war, stellte er ihm ein Landgut mit 200 „Seelen“ in Aussicht. Puschkin fuhr dorthin, um den Besitz auf seinen Namen eintragen zu lassen. Von einer Cholerawelle wusste er zu diesem Zeitpunkt noch nichts.
Am 28. August 1830 war er aufgebrochen, am 9. September tauchen erste Erkrankungen in der Nähe von Boldino auf. Angst vor Ansteckung hat der Dichter nicht. Was ihn bedrückt und verärgert ist der Zwang. Er möchte sich nach Moskau durchschlagen, doch die Stadt ist abgeriegelt. Nicht mal Post trifft von dort ein. Umso größer die Sorgen um seine Natalja. „Also, Sie sind auf dem Land, wohlgeschützt vor der Cholera?“, schreibt er an sie. „Schicken Sie mir doch Ihre Adresse und Ihr Gesundheitsbulletin.“
Die Cholera wird seine „Pest“, die er indes für sich produktiv zu machen versteht. „Er verfasst gleich drei Erzählungen Belkins, angefangen von Der Sargtischler. Außerdem eine ganze Reihe von Gedichten; auch sie sind für Puschkin zu jenen klammen Zeiten eine wichtige Einnahmequelle. Und er schließt seinen Versroman Jewgeni Onegin ab, jedenfalls das Kapitel, das zuletzt am Ende stehen sollte, auch wenn sich in seiner Fantasie noch weitere Onegin-Kapitel bewegen.“
„Puschkin in Quarantäne“: Wie Rosemarie Tietze die Texte für diesen kleinen Band nicht nur übersetzte sondern auch kommentierte, ist ein großer Gewinn. So stellt sich ein Zusammenhang her zwischen den Briefen vornehmlich an Natalja Nikolajewna und einige Freunde, wie auch zu seiner Familiengeschichte und seinem eigenen Schaffen.
So sehr ihn die erzwungene Abgeschiedenheit ärgerte, seinem Schreiben tat sie gut. Die Erzählungen „Der Schneesturm“, „Der Schuss“ und „Der Stationsvorsteher“ entstehen. Auch zwei Dramen: „Der geizige Ritter“ sowie „Mozart und Salieri“. Das zehnte Kapitel zu „Jewgeni Onegin“ – warum wohl? – hat er verbrannt.
„Gnädige Frau Natalja Nikolajewna, auf Französisch mich zanken kann ich nicht, darum gestatten Sie mir, Sie auf Russisch anzusprechen …“ Dass die damalige Konvention verlangte, Briefe gerade an Frauen, auf Französisch zu schreiben, erfahre ich erst von der Herausgeberin. Von wie vielen Querelen und Ärgernissen der Dichter umgeben war und wie sich noch Schlimmeres zusammenbraute! Am 29. November 1830 bricht er schließlich nach Moskau auf, doch 75 Werst vor Moskau wird er festgehalten. Immerhin haben Leute wie er Beziehungen, die ihnen in solcher Lage helfen können.
Am 5. Dezember trifft er in Moskau ein. Er ist blank und muss sein neues Gut verpfänden, um Bargeld in der Hand zu haben. 11 000 Rubel habe er seiner Schwiegermutter gegeben, schreibt Rosemarie Tietze, für die Vorbereitungen zur Hochzeit, die dann am 18. Februar 1831 stattfinden kann. Nur knapp sechs Jahre später, am 10. Februar 1827 erlag er seinen Verletzungen nach einem Duell, das er um die Ehre seiner Frau führte. Erst 37 Jahre war er alt, als er auf dem Höhepunkt seines Schaffens starb.
Aber in Boldino lag das alles für ihn noch in weiter Ferne. Was das Buch auf jeden Fall zeigt: wie man Frust und Ärgernissen am besten begegnet. Arbeitend! Zu den Texten, die in der erzwungenen Abgeschiedenheit entstanden, gehört auch der Einakter „Das Festmahl zur Zeit der Pest“. Draußen fährt ein Karren voller Leichen vorüber, doch drinnen wird gefeiert. Trauer und Trotz vermischen sich.
Alexander Puschkin: Puschkin in Quarantäne. Ausgewählt, übersetzt und kommentiert von Rosemarie Tietze. Friedenauer Presse, 115 S., br., 22 €.