Willkommen in meinem Literatursalon
Irmtraud_Gutschke

Lesen macht glücklich, weil es uns sagt, wer wir sind und wer wir sein wollen, weil wir über uns hinauswachsen, in fremder Haut erleben dürfen, was uns sonst verschlossen bliebe. Heutzutage scheinen wir ja in Informationen zu ertrinken und haben doch das Gefühl, dass uns Wichtiges fehlt. Was ich suche, sind Bücher, die in diesem Sinne nachdenklich machen, ja auch solche, von denen ein Leuchten ausgeht. Viele Jahrzehnte habe ich als Literaturredakteurin mit Hunderten, ja Tausenden von Texten zu tun gehabt, auch selber Bücher geschrieben. Die Neugier auf Neues will ich hier mit anderen teilen.

„literatursalon.online“: Stellen Sie sich vor, wir sind zusammen in einem schönen Saal, und Sie möchten von mir wissen, was sich zu lesen lohnt. Was interessiert Sie denn, frage ich zurück. Politische Sachbücher? Gute Romane und Erzählungen? Spannende Krimis? Bildbände, die man immer wieder betrachten möchte? Mit meiner Auswahl lade ich Sie zu Ihren eigenen Entdeckungen ein.

Irmtraud Gutschke

Wenn Sie mehr über mich erfahren wollen - meine Biografie, meine Bücher und Veranstaltungen - , schauen Sie auf meine Webseite www.irmtraud-gutschke.de

Juliette Lagrange: Nickel der Dackel

„Aber … das ist doch großartig!“

Irmtraud Gutschke

Gleichsam filigrane Malereien sind die Illustrationen von Juliette Lagrange. Schon auf den ersten Blick locken sie ins Buch. Aber auch die Geschichte, die uns die französische Künstlerin erzählt, hat es in sich. „Nickel der Dackel“ (seltsamerweise ohne Komma geschrieben) genügt landläufigen Schönheitsidealen nicht, wie es vielen Erwachsenen und auch Kindern geht. Bei sportlicher Betätigung ist er ausgegrenzt – ach, wie gut ich das kenne, bei Ballspielen keine gute Figur zu machen. Aber Nickel ist mutiger, als ich es je gewesen wäre. Und geschickt dazu. Er baut sich eine Leiter, die sich in eine Rutsche verwandeln lässt. Warum aber verlässt er seine Besitzer, die er doch eigentlich mag?

Das sollte man fragen, ehe man bei Vierjährigen mit dem Vorlesen weitermacht. Achtjährige können ja selber lesen. Für diese Zeitspanne von vier bis acht ist das Buch nämlich gedacht. Man kann es einfach als Abenteuer eines Hundelebens verstehen oder, in die Tiefe gehend, als Ermutigung, anders als der Durchschnitt zu sein.

Dass Nickels Vorliebe fürs Basteln, Sammeln, Malen, Zeichen ganz früh wie von selbst entstanden ist, mag Juliette Lagrange an ihren eigenen Lebensweg erinnern. Ob sie für ihr Talent ein Doppelleben in Kauf nehmen musste, wissen wir nicht, aber sie wäre nicht die erste und nicht die letzte gewesen. Nickels Coming out beginnt nämlich, als er auf der Straße einer seltsamen Gestalt ansichtig wird. Ein Künstler: „Noch nie habe ich so einen mit eigenen Augen gesehen.“ Jeden Abend zieht es ihn nun in dessen Atelier, wo er mit anderen zusammen nach Herzenslust malt. Eines morgens aber … Da muss er seinen Besitzern ein Geständnis machen, das ich hier wörtlich wiederhole, weil es der Autorin so aus dem Herzen spricht. Und auch mir, wenn man „Malen“ durch „Lesen und Schreiben“ ersetzt.

„Ich habe eine Abneigung gegen Sport, ich kann Laufen nicht leiden, ich habe Angst vor Wettkämpfen, mir graut es vor Kälte, und ich hasse Schlamm … Was mir wirklich gefällt, ist, die Blätter im Wind zu betrachten, den Glanz der Dächer im Mondlicht, die Farben des Herbstes, den Rauch der Schornsteine … Ich liebe die Kunst, und seit einigen Monaten … male ich insgeheim.“

Wird er nun Ärger bekommen, zumal die Wohnung voller Sportpokale steht? „Aber das ist doch großartig!, sagen seine Besitzer, als sie seine Bilder betrachten. „Wir wussten ja gar nicht, wie begabt du bist, Nickel!“ Es geht also gut aus, wie es in einem Kinderbuch ja sein muss. Wenn das Malen ein Freizeitvergnügen ist, gibt es ja auch kein Problem. Die eigene Berufung zu erkennen und zum Beruf zu machen – muss allerdings nicht automatisch funktionieren, zumal heute nicht, da so viele Leute gern kreativ sein wollen. Dass man von Kunst oft nicht leben kann, auch das könnte man Kindern schon mal andeuten.

Juliette Lagrange: Nickel der Dackel. Aus dem Französischen von Emilie Alice Siewert. Insel Verlag, 36 S., geb., 18 €.

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