Eine Liebeserklärung
In Russlands Fernen Osten an der Seite einer faszinierenden „Reiseführerin“
Irmtraud Gutschke
„Ich bin in den Amur verliebt“ – mit diesem Bekenntnis von Anton Tschechow, als er 1890 auf dem Weg zur Insel Sachalin war, beginnt das Buch. Es ist in der Tat eine Liebeserklärung. Tatjana Kuschtewskaja wurde 1947 zwar in einer turkmenischen Wüstenoase geboren, ist aber als Drehbuchautorin viel in der UdSSR herumgekommen und hat lange in Sibirien gelebt. 1991 zog sie nach Deutschland, „der Liebe wegen“, wie sie sagt. Dies ist, wenn ich richtig gezählt habe, schon das 27. Buch, das sie hierzulande veröffentlicht hat. Und es ist, Dank dem Wostok Verlag, in diesem Jahr eine der ganz wenigen Neuerscheinungen, die nach Russland führen. Als ob die Verlage in größter Eile alle Brücken dorthin abgebrochen hätten. Wir kennen den Grund, und doch erstaunt der politische Gehorsam.
Der Amur also: 2824 Kilometer lang, bringt er uns in den Fernen Osten. Zu den berühmten Amur-Tigern, zu den verschiedenen Bärenarten, die in der Taiga leben, und zu dem riesigen Kaluga-Hausen aus der Familie der Störe. Zu den verschiedenen indigenen Ethnien, die dort leben: den Nanaier, Negidalen, den Niwchen (durch Wladimir Sangi und Aitmatows „Scheckiger Hund, der am Meer entlangläuft“ habe ich von ihnen zumindest einen Begriff), den Orotschen, Udehen, Ultschen, Ewenken und Ewenen.
Tatjana Kuschtewskaja ist uns beim Lesen eine kundige Reiseführerin. Wie schön muss es in Blagoweschtschensk sein, von wo man einen Ausflug zum Naturwunder „Brennende Berge“ machen kann, das hier auch eine Erklärung findet. Und in Chabarowsk, der „Hauptstadt des Fernen Ostens“ soll es so viele Sonnentage geben, dass Wein gedeiht. Wir spazieren mit der Autorin durch diverse Naturschutzgebiete, erfahren, wie wir uns bei der Begegnung mit einem Bären verhalten sollen, probieren Pelmeni mit Buckellachsfüllung und bekommen gleich das Rezept dazu. Natürlich wird auch „Ucha“ gegessen, die berühmte Fischsuppe, für die jeder Angler sein eigenes Rezept hat. Wie gern würde man mal bei den Udehen sein, wo jeder ein Schamane ist. „Heidnischer Glaube“ – der Begriff entstand im Kontrast zum Christentum, das sich so überlegen dünkte, um andere Völker zu missionieren und zu kolonisieren. Der Versuch, deren uralte Spiritualität auszurotten, sollte uns heute auf dem Gewissen liegen. Und leid tun sollte es uns auch für uns selber: Wie wünschte ich mir eine Schamanin oder einen Schamanen zu treffen …
Das Buch „Dersu Usala, der Taigajäger“ von Wladimir Arsenjew müsste man wieder lesen, denn der Nanaier lebte und starb in diesem Gebiet. Der japanische Regisseur Akira Kurosawa hat 1975 danach einen berühmten Film gedreht. Und haben Sie schon mal von Birobidschan gehört? 1928, lange vor der Entstehung des Staates Israel, wurde dieses Jüdische Autonome Gebiet in der Sowjetunion gegründet. „Kein fernöstliches Jerusalem“, doch zweifellos eine schöne Stadt. „Die Menschen flanieren auf der Uferpromenade wie auf einem Boulevard am Meer.“ Es gibt nur 27 Sonnentage im Jahr weniger als in Odessa, aber im Winter ist es ungemütlicher.
Beim Spaziergang, den wir mit der Autorin machen, sehen wir eine Menge historischer Gebäude und Denkmäler, und wir erfahren auch etwas über berühmte Persönlichkeiten, sei es der Schriftsteller Emmanuil Kasakewitsch, der Polarforscher Georgi Uschakow oder George Koval, der im US-amerikanischen Nuklearzentrum Oak Ridge für die UdSSR spionierte. Ein Hochgenuss sind die vier Seiten mit jüdischen Sprichwörtern und Gleichnissen voller Lebensweisheit und Witz, und danach wird uns Rezept zum Traditionsgericht „Gefilte Fisch“ präsentiert.
Eine Reise im Geiste, die von Anfang bis Ende ein Vergnügen ist: Das liegt an den interessanten Eindrücken, die man gewinnt, vor allem aber an der Frau, in deren Begleitung man sich befindet. Andere mit der eigenen Begeisterung anzustecken, das ist Tatjana Kuschtewskajas großes Talent, das auch ihren mitreißenden Schreibstil prägt. Sie ist selbst so hochgestimmt, dass gleichsam Funken sprühen. So tut sie anderen Menschen gut. Zur Buchpremiere auf der Leipziger Buchmesse hat sie allerlei Köstlichkeiten verschenkt – und vor allem Liebe.
Tatjana Kuschtewskaja: Der Amur. Geschichte und Geschichten aus Russland von einem großen Fluss. Aus dem Russischen von Steffi Lunau. Wostok Verlag, 220 S., br., 17 €.