Rasante Schatzsuche mit dem Meister der Spannung
Irmtraud Gutschke
Man kann es wie einen Film vor sich sehen, wie der Erzähler des nachts auf einer sonst menschenleeren Insel zu seinem freund unterwegs ist: tosendes Wasser, ein verfallener Steg und eine Hütte, in der ihn Aufregendes erwartet: Sein Freund, der dort mit seinem Diener wohnt, berichtet ihm von einem großen goldenen Käfer, wie er ihn noch nie gesehen hatte. Doch leider hatte er ihn über Nacht zur Begutachtung weggegeben, sodss er dem Ich-Erzähler nur eine Zeichnung zeigen kann. Da kommt es zu Irritationen: Es fehlen die langen Fühler des Käfers. Stattdessen ist ein Totenkopf zu sehen.
Ein von Anfang an grusliges Ambiente hat der französische Grafiker Paul Marcel ins Bild gebracht, der zugleich Erfahrung bei der Gestaltung von Videospielen hat. Èric Corbeyran als Textautor wiederum verfasst seit zwanzig Jahren Szenarios für Comics und Graphic Novels und hat dafür schon viele internationale Preise bekommen. Zwei Meister ihres Fachs haben sich hier mit einer Koryphäe der Spannungsliteratur zusammengetan: Edgar Allan Poe. Der war ein Meister der Kriminal-, Horror- und Schauerliteratur und hat viele spätere Autorinnen und Autoren beeinflusst. Die Kurzgeschichte „Der Goldkäfer“ ist 1843 erstmals im „Dollar Newspaper“ veröffentlicht worden (das passt, geht es doch hier um die Jagd nach Reichtümern). 1859 erschien die erste Übertragung ins Deutsche. Sage und schreibe 21 Neuübersetzungen hat es seitdem gegeben. Ein Beweis dafür, wie die Geschichte Übersetzer, Verleger und Leser immer wieder faszinierte.
Für eine Graphic Novel ist sie geradezu prädestiniert: aktionsreiche Handlung, schaurige Atmosphäre, interessante Charaktere. In Legrands Hütte wirft ein flackerndes Feuer Schatten, und dem Hausherrn stehen die Haare auf eine Wise zu berge, dass man Teufelshörner vor sich zu sehen meint. Später meint sein Diener, dass er verrückt geworden sei. Hat ihn der Biss des Käfers goldgierig gemacht? Diese irren Augen …
Schon sind wir bereit an allerlei mystische Dinge zu glauben. Paul Marcel spielt ja damit. Ein Horrorfilm könnte es sein. Aber dann mischt sich, beginnend mit dem Verschwinden der Fühler auf Legrands Zeichnung, analytisches Denken ein. Edgar Allan Poe hat sich bekanntlich für Geheimschriften interessiert und sogar eine theoretische Schrift dazu veröffentlicht. Und am Schluss findet sich – wie man es gerne hat – eine rationale Erklärung für all das Rätselhafte.
Doch zuvor geht es durch gespenstische Landschaften, während Legrand seinen Käfer an einer Schnur vor sich herträgt. Dornige Sträucher strecken ihre „Arme“ aus. Und dann taucht ein riesiger Baum auf. Der Diener Jupiter muss klettern bis zum siebenten Ast, auf dem sich tatsächlich ein Totenschädel befindet … Doch damit ist die Geschichte noch längst nicht zu Ende. Nur so viel sei verraten, dass es um eine Schatzsuche geht. Den Piraten William Kid gab es wirklich.
Éric Corbeyran, Paul Marcel: Der Goldkäfer nach Edgar Allan Poe. Graphic Novel. 48 S., Aus dem Französischen von Svenja Tengs. Knesebeck Verlag, 48 S., geb., 22 €.