Wir sind nicht der Nabel der Welt
„Das Zeitalter der Idiotie. Wie Europa seine Zukunft verspielt“ von Ramon Schack
Irmtraud Gutschke
So weitgereist wie er sind wohl nur wenige Journalisten. Sri Lanka, Kasachstan, Ägypten, Irak, Indonesien, Malaysia, Neuseeland, Ecuador, Cleveland/ Ohio, Iran, Äthiopien, Russland, Armenien – Ramon Schack nimmt uns in seinem neuen Buch an Orte mit, wo wir noch nie waren und vielleicht auch nie sein werden. „Das Zeitalter der Idiotie“: Unter diesem Titel hätte man solch eine bunte Sammlung von Reisereportagen eher nicht erwartet. Aber man täusche sich nicht: So konkret-lebendig, so anschaulich die Reiseeindrücke sind, von denen man hier liest, haben sie doch nicht nur touristischen Charakter. Ramon Schack hat sich aufgemacht, um über unser kleines Deutschland hinauszublicken, wo man sich nicht selten als Nabel der Welt sieht. Er will diese Welt im Zusammenhang verstehen und lässt uns daran teilhaben.
Politische Wissenschaft, Völkerrecht und Osteuropastudien – über solch eine Ausbildung verfügen nicht viele Journalisten und vor allem auch nicht über einen solchen „Lehrer“ wie Peter Scholl-Latour. Aus dem Gespräch, das Ramon Schack am 9. März 2014 (dessen 90. Geburtstag) führte, ist ein Jahr später ein Buch geworden. Was Scholl-Latour damals zur Ukraine sagte und wie er von einem „Zeitalter der Massenverblödung“ sprach, hallt bis heute in ihm nach. Untergründig erhält der vorliegende neue Band dadurch einen gedanklichen Rahmen, der nicht nur die einzelnen Reportagen verbindet, sondern auch uns Weltanschauung vermittelt – im konkreten und im allgemeinen.
Vielen ist doch gar nicht bewusst, wie Menschen außerhalb Europas die Welt wahrnehmen. Unterschwellig weiterwirkendes koloniales Denken legt die Vorstellung nahe, dass sie zu uns aufsehen würden und nach der US-dominierten „wertebasierten“ Weltordnung lechzen. In Wirklichkeit aber ist eine multipolare Weltordnung im Entstehen. Ob sie wohl friedlicher sein wird?
„Die Menschen wollen in Ruhe gelassen werden und zufrieden leben, sie wollen Arbeit und ein Dach überm Kopf haben, gesund bleiben, die Kinder aufwachsen und zur Schule gehen sehen“ – was ein Straßenhändler in Ecuador zu Ramon Schack sagte, trifft wohl ebenso auf uns zu. Aber könne man denn zufrieden sein, fügt der Mann hinzu, wenn man wisse, „dass es sehr, sehr vielen Menschen nicht so gut geht wie einem selbst … ‚Wem gehört das alles hier?‘ Er holt mit beiden Armen weit aus, als umfasse die Glaspaläste der Banken und die Firmensitze der internationalen Konzerne, die Kaufhäuser und Hotels, die restaurierten Fassaden der Altstadt mit ihren Geschäften und Restaurants. ‚Vornehmlich den Nachfahren der Kolonialisatoren. Nicht den zwei Dritteln der Einwohner, deren Wurzeln in Südamerika liegen.‘“
Ramon Schack besucht ein Flüchtlingslager im Norden von Irak und erlebt Bad Oldesloe, wo inzwischen viele Zugewanderte leben, als „Klein Babylon“. Er feiert Weihnachten bei den Peschmerga in der „Autonomen Region Kurdistan“, wo die Bevölkerung dank lukrativer Erdölgeschäfte einen bescheidenen Wohlstand genießt. „Am Himmel zieht ein – vermutlich– amerikanisches Bombengeschwader entlang, wahrscheinlich geht es zu einer der US-Basen im Inneren des Landes. Seit vierzig Jahren taumelt der Irak von einem Krieg zum nächsten. Ein wahrer Abgrund tat sich allerdings auf, als im Sommer 2014 aus der Ninive-Ebene eine militante Horde auftauchte, die zunächst einen islamischen Staat in Irak und Syrien proklamierte …“
Weltpolitische Informationen und Zusammenhänge: Was geschah nach dem von der CIA inszenierten Staatsstreich zwischen 1965 und 1967 in Indonesien? Welcher Bezug stellt sich her zum Krieg in Afghanistan? Was hat es mit den antichinesischen Stimmungen in Malaysia auf sich? Wer führte als erstes Land der Welt das Frauenwahlrecht ein? Neuseeland! Hätten Sie das gedacht? Und ist der American Way of Life noch das, was er mal war? Bill Clinton, George W. Bush, Barack Obama, Donald Trump, Joe Biden – wie hat sich das Land verändert? Eine jüdische Diaspora in Iran, Christen und Muslime in Äthiopien, wo inzwischen über 120 Millionen Menschen leben, ein fünf Meter hoher Leninkopf auf dem Sovjetskaya-Platz in Ulan-Ude, wo man sich als Zentrum des Buddhismus und Schamanismus versteht … Immer wieder überrascht uns der Autor mit interessanten Einzelheiten. Man wird sich festlesen, versprochen.
Und viel Stoff zum Nachdenken bekommen. „In der internationalen Politik geht es nie um Politik und Menschenrecht. Es geht um die Interessen von Staaten. Merken Sie sich das, egal, was man Ihnen im Geschichtsunterricht erzählt.“ So wird Egon Bahr aus einem Gespräch mit Schülern in Heidelberg zitiert. Dass Deutschland gegen die eigenen Interessen handelt, ist offensichtlich, wenn man nicht gerade Angst vor einem russischen Einmarsch in Berlin hat. Sind bei Ihnen jetzt „die Roten Khmer an die Macht gekommen, die jetzt an der Zerstörung Ihres Landes arbeiten?“, wird Ramon Schack im Juli 2023 in Sri Lanka gefragt. „Wie kann man sich so in Schwierigkeiten bringen?“
Ramon Schack: Das Zeitalter der Idiotie. Wie Europa seine Zukunft verspielt. Edition Ost, 232 S., br., 18 €.