Vom Geiseltal bis zum Palast der Republik
Vom Werden und Vergehen: „Deutschlands verschwundene Orte“ von Pia Volk
Sie lebten in der Nähe des heutigen Hamburg und waren Rentierjäger. „Man stellt sie sich gerne als hellhäutige behaarte Männer vor, in Rentierhäute gehüllt, die sich mit Speeren bewaffnet an das Wild heranpirschten“, schreibt Pia Volk. Aber ganz sicher seien diese Menschen dunkelhäutig gewesen. „Forschende haben Skelette aus der Steinzeit untersucht und konnten in der DNA keine Gene finden, die heute für helle Haut verantwortlich sind.“ Auch seien unsere Vorfahren anfangs braunäugig gewesen.“ „Die blaue Augenfarbe entstand 10 000 bis 6000 Jahre vor heute.“
Können wir uns diesen Zeitraum überhaupt vorstellen? Wenn wir dieses Buch lesen, können wir diese Jäger vor Augen sehen, wie sie „im Tunneltal am Rand der kleinen Seen saßen und sich den Bauch mit Rentierfleisch vollstopften“. Diese Tunneltäler, erfahren wir, wurden in der Landschaft nach der Eiszeit hinterlassen, als die massiven Gletscher abschmolzen. „In den Tälern hielten sich stellenweise noch Eisblöcke, die irgendwann ebenfalls schmolzen und kleine Seen entstehen ließen, die man als Toteis-Seen bezeichnet.“
Pia Volk ist Geographin und Ethnologin. Von Leipzig aus erkundet sie die Welt und hat das Talent, anschaulich, mitreißend davon zu erzählen. In diesem Band stellt sie dreißig Orte vor, die verschwunden sind: ein versunkenes, unbekanntes Deutschland. Um Grabhügel aus verschiedenen Zeiten geht es wie die bei Oldendorf in der Lüneburger Heide, in der Nähe von Leubingen bei Erfurt oder auf dem Rullstorfer Kronsberg, 10 Kilometer nordöstlich von Lüneburg. Dort wurde ein Hirsch begraben, dazu 42 Pferde und acht Hunde. Solche Tiergräber geben Wissenschaftlern immer wieder Rätsel auf. „Die Tiere sind die gleichen, mit denen Odin gerne dargestellt wird“, meint Pia Volk. Odin? Wer noch keine geistige Bekanntschaft mit dem germanischen Gott des Sturms und der Jagd, der Toten, dem Beschützer der Krieger und Herrscher geschlossen hat, kann es hier tun. Interessant ist, dass die Götter in der germanischen Mythologie, anders als der christliche Gott, keineswegs allwissend und vollkommen waren. Das Leben in Asgard, wo Götter und Riesen lebten, war „dem der Menschen nicht unähnlich“.
Warum haben Menschen ihre Blockhütten nicht nur ans Ufer des Bodensees, sondern auch direkt ins Wasser gebaut? Im Pfahlbaumuseum Unteruhldingen bekommt man eine Ahnung davon, wie diese Siedlungen aussahen, die um 800 v. Chr. verschwanden, als es in Europa nasser und kälter wurde. Das Wasser des Sees stieg und damit die Gefahr von Überflutungen. Wie haben die Menschen damals gelebt? „Die Menschen in der Steinzeit waren zwar sesshaft, aber nie lange. Das Haus als warmes Nest, in das der jagende Vater abends zurückkehrt, wo die Kinder spielen und die Mutter Brei anrührt? Das sind Bilder von heute. Die Menschen in der Steinzeit haben arbeitsteilig in größeren Gruppen zusammengelebt. „Blutsverwandtschaften spielen womöglich nicht die Rolle, die wir ihnen versucht sind zu geben.“ Es war eine andere Kultur.
Es ist ungemein bereichernd, dieses „Andere“ zu ergründen. Man merkt bei Lesen, welche engstirnigen Vorstellungen man mitunter hat. Allein schon was das Zeitliche betrifft. Die eingangs erwähnten Rentierjäger sind vor etwa 9600 Jahren verschwunden, als es in Norddeutschland wärmer und feuchter wurde und jene Landschaft mit Wiesen und Büschen entstand, die wir heute kennen.
Klimaveränderungen: Auch diesbezüglich ist das Buch aufschlussreich. Einsichtig wird, wie sich das Klima im Laufe der Erdgeschichte immer wieder dramatisch geändert hat, was nicht dagegen spricht, dass Menschen für heutige bedrohliche Klimaveränderungen verantwortlich sind.
Ein spannendes Buch von der ersten bis zur letzten Seite. Es beginnt mit dem Geiseltal in Sachsen-Anhalt, wo sich vor 45 Millionen Jahren subtropische Wälder erstreckten, in denen Krokodile, Tapir und Laufvögel lebten, die anders aussahen als die heutigen. Und es endet im „Humboldt Forum“, dorthin, wo einst der Palast der Republik gestanden hat. Aber vorher hatte, was viele nicht wissen, noch eine Asbestsanierung stattgefunden. Bis 2001 sanierte man das Gebäude, was 143 DM gekostet hat. Im Mai 2003 haben dort schon wieder Führungen und Konzerte stattgefunden. Das Sterben des Palastes war lang. „19300 Tonnen Eisen und Stahl wurden entsorgt, 56 000 Tonnen Beton und 500 Tonnen Glas. Im Dezember lag an der Stelle, wo der Palast einst stand, eine Brache.“
Pia Volk: Deutschlands verschwundene Orte. Ein Atlas. Illustrationen von Lukas Wossagk. Verlag C.H. Beck, 286 S., geb., 24 €.