„Ikonen tränten und bluteten in jener Nacht“
Sergej Lebedew beschwört die „Gespenster der Vergangenheit“
Irmtraud Gutschke
„Man erzählte sich von üblen Orten, von anomalen Zonen, wo die Gesetze der Physik nicht galten. Von seltsamen Wesen, Klopfgeistern, die in Häusern , in Wohnungen lebten und unliebsame Menschen verfolgten, indem sie hämmerten, lärmten und Gegenstände verrückten. Von Kindern, die mit auffälligen Muttermalen geboren wurden, wenn ihre Vorfahren durch Erschießung hingerichtet worden waren.“ Schon in den letzten Jahren des Sowjetimperiums habe er eine solche „mystische Folklore“ beobachtet, schreibt Sergej Lebedew, der inzwischen in Potsdam lebt.
Dies ist sein fünftes Buch, das jetzt im S. Fischer Verlag erschien. Alle übersetzt von Franziska Zwerg, nachdem sie vorher in Moskau publiziert worden sind. Und das, obwohl er Wladimir Putins Politik kritisiert. „Die Welt braucht nicht nur ein Russland ohne Putin – die Welt braucht ein Russland ohne imperiales Bewusstsein“, hieß ein Text von ihm in der „Neuen Zürcher Zeitung“.
Als ob dies der einzige Staat der Welt sei, der sich als Großmacht geriert. Aber als Russe, 1981 in Moskau geboren, kehrt Lebedew vor der eigen Tür. Auch sind, wie so oft bei Autoren, Publizistik und Prosa nicht gleichzusetzen. Lebedews Bücher leben vom Doppelbödigen, Geheimnisvollen. Immer ist da etwas auszugraben, der Autor hat ja ursprünglich auch Geologie studiert.
„Titan oder Die Gespenster der Vergangenheit“ – der Titel verweist zwar auf Untergründiges, Unverarbeitetes im gesellschaftlichen Bewusstsein, in den 11 Erzählungen indes geht es immer um einzelnen Menschen, die durch Unerklärliches aufgestört werden. Eine mystische Atmosphäre liegt über dieser schillernden Prosa, die voller farbiger Beschreibungen und Metapher ist.
Spannung garantiert. In „Abend eines Richters“ setzt das durchdringende Heule einer Hündin Erinnerungen frei. In „Antoniusfeuer“ ist es eine alte Schatulle aus einem Adelshaushalt, die in Verbindung zu einem sowjetischen Gefangenenlager steht. Wie sich in der gleichnamigen Erzählung ein Obelisk auf dem Pokrowski-Friedhof plötzlich neigt, wie der Kontrollposten an einer verlassenen Eisenbahnstrecke im Kopfhörer ein gespenstisches „Huuu“ vernimmt und tatsächlich fährt irgendwann ein Militärzug vorüber, um mit zerstören Mannschaftswagen zurückzukehren, , wie der Geist eines Kampfpiloten lebendig wird und unter der chinesischen Botschaft eine Bombe auftaucht und was das mit einer heiligen Kiefer zu tun haben könnte – immer sind da untergründige Verbindungen, denen man mit dem Autor gemeinsam auf die Spur kommen will.
Immer geht es um Menschen, die etwas spüren und deshalb verängstigt sind. Das kann mit schlechtem Gewissen zusammenhängen. Sie sehen Gespenster, weil in ihnen eine böse Erfahrung vergraben ist. Aber oft haben auch Orte und Dinge ihre Magie. Da tauchen Äpfel auf, die innen blutig sind, ein Kind, aus dem ein Geheimagent werden wird, bekommt rote Hautausschläge. Und „Ikonen tränten und bluteten in jener Nacht.“ Da sieht der Wächter des Kreml am Abendhimmel ein nie dagewesenes Licht. „Als ergösse sich eine fremde Welt in die unsere, ohne ihre Form zu verlieren, als dränge sie hier ein und bliebe hängen, löste sich langsam darin auf: wunderliche, luftig-leichte Milch, perlmuttfarbene Hüllen, lebensvolle Nebel von der anderen Seite des Himmel, Kolonien von Wolkenkorallen.“
Wie schön und wie schrecklich.
Sergej Lebedew: Titan oder Die Gespenster der Vergangenheit. Aus dem Russischen von Franziska Zwerg. S. Fischer Verlag, 296 S., geb., 25 €.