Wir müssen den Raubbau erkennen
Irmtraud Gutschke
Der Hektik entfliehen, vielleicht einfach nur, um sich auszuruhen oder auch um etwas zu tun, was wichtig erscheint, für das man aber noch „Zeit finden“ muss – im Titel dieses Buches steckt ein Hilferuf und vielleicht gar ein Versprechen von Hilfe. Aber hier handelt es sich nicht um einen der vielen Ratgeber zu Achtsamkeit und Entschleunigung, so verdienstvoll diese im einzelnen auch sein mögen. Jenny Odell lehrt an der Stanford University. Sie ist, wie der Klappentext, „Künstlerin und Schriftstellerin“. Wir haben es also mit einem literarisch formulierten Text zu einem politischen Thema zu tun, der uns zugleich in viele anregende Überlegungen zieht.
„Dieses Buch ist kein praktischer Ratgeber, um im direkten Sinne mehr Zeit zu gewinnen … Was Sie hier finden werden, sind konzeptionelle Hilfsmittel, um darüber nachzudenken, was „Ihre Zeit“ mit der Zeit zu tun hat, in der Sie leben.“ Folgerichtig steht eine Analyse der Arbeitswelt am Beginn. Die Autorin war bei Amazon tätig, in einem Call Center und bei McDonald’s. Sie weiß, unter welchem Druck man dort steht. „Holen Sie das meiste aus der Zeit ihrer Mitarbeiter heraus“ – dafür sorgen inzwischen Mitarbeiter-Tracking-Systeme. Zeitbemessung als Regelung und Strafe. Kapitalismus in Reinkultur.
Anders leben: Im Unterschied zu Autorinnen und Autoren, die das vornehmlich als individuelle Herausforderung verstehen, hat Jenny Odell die gesellschaftlichen Voraussetzungen im Blick – und das zugleich in einem antikolonialistischen und ökologischen Sinne. Wer heute unter Zeitdruck und Klimaangst lebt, spürt die Auswirkungen von Ausbeutung der Menschen wie der Natur.
Mit dem Kolonialismus kam eine Zeitrechnung zu den indigenen Völkern, die diese vorher nicht kannten. Zeitdisziplin als Unterjochungsinstrument. Denn es ging um Profit. Effektivität als Forderung, die die Menschen an sich selbst stellen sollten. So spricht Odell zu Recht von einem strukturierten Machtverhältnis, was die Zeit betrifft. Berufstätige Mütter sind davon besonders betroffen. „Irgendwann kommt man an die Grenze dessen, was ein Individuum leisten kann.“
Mit vielen persönlichen Beobachtungen gespickt, wird hier eine Gesellschaftsdiagnose vorgelegt, die nicht nur die Arbeit, sondern auch die Freizeit umfasst, welche zunehmend dem Konsum unterworfen ist. In diesem Zusammenhang kritisiert sie auch den Begriff des Anthropozän als abstrakt. „Eine ’naturhafte und zeitlose‘ kapitalistische Menschheit und eine hilflose Natur“ – wie vieles wird da alles ausgeblendet, was schwarze und indigene Menschen bereits durchgemacht haben, wie ihre Weltsicht vergessen gemacht wurde. „Wir müssen den Raubbau erkennen.“
Jenny Odell: Zeit finden. Jenseits des durchgetakteten Lebens. Aus dem Englischen von Annabell Zettel. C. H. Beck Verlag, 440 S., geb., 28 €.