„Sind wir alle verrückt?“
Irmtraud Gutschke
Mitunter scheint es heute tatsächlich so, dass vielleicht nicht alle, aber viele, irgendwie neben der Spur sind. „Sind wir alle verrückt?“ – der Neurowissenschaftler Philipp Sterzer stellt in seinem Buch eine provokative Frage und beantwortet sie nicht so, wie es gemeinhin üblich ist. Zwar gebe es Unterschiede, aber „keine klare Grenze zwischen ’normalen‘ und krankhaft veränderten Prozessen im Gehirn … Vielmehr scheint es eine allgemeine und grundlegende Eigenschaft von uns Menschen zu sein, dass wir (oder unsere Gehirne) uns unsere eigenen Welten bauen; dass wir also die Welt nicht nur unterschiedlich wahrnehmen, uns unseren eigenen Reim auf die Wahrnehmungen machen und so zu unterschiedlichen Überzeugungen darüber gelangen, was wahr ist und was nicht, sondern dass wir auch dazu neigen, an unseren Überzeugungen mit unerschütterlicher Gewissheit festzuhalten, selbst wenn die Fakten eindeutig dagegen sprechen.“
Seine Arbeit am Buch fiel in die Zeit der Corona-Pandemie, als tatsächlich Überzeugungen mit einer Wucht aufeinanderprallten, dass Verwandte und Bekannte sich zerstritten. Da fand es der Autor Argumente wichtig, etwas zu relativieren. Aus neurowissenschaftlicher Sicht vertritt er die These, dass Überzeugungen „immer nur Hypothesen“ sein können. Also sollten wir lernen, eigene Überzeugungen kritisch zu hinterfragen und gegenüber anderen Standpunkten offen zu sein.
Stimmt: Menschen neigen zu einfachen Kategorisierungen, weil sie die Welt subjektiv überschaubarer machen. Aber werden sie uns aber nicht auch aufgedrängt? Wirkt so nicht Ideologie?
Die Überlegungen von Philipp Sterzer lesen sich anregend. Dass unsere Erfahrungen beschränkt sind und sich das auf unsere Urteile auswirkt, ist plausibel. Dass Rationalität oft irrationale Beimischungen enthält, kann jede, jeder an sich selbst beobachten. Allein schon der momentane Zustand – wie geht es uns, wie sind wir gestimmt? – wirkt sich auf Urteile aus. Wenn das die Normalität ist, bei welcher Abweichung von der Norm sind wir berechtigt, von Krankheit zu sprechen? Wie ist die Diagnose Schizophrenie einzuordnen? Und inwieweit können wir tatsächlich verantwortlich sein für das, was unser Gehirn mit uns macht?
Viel Nachdenkenswertes wird geboten – und das gelingt sogar auf eine zugängliche, oft unterhaltsame Weise. Wer bislang nicht ahnte, dass Gehirne ein „Eigenleben“ haben, wird staunen. „Die Frage, ob der ganze Reichtum, die Buntheit und Vielfalt meines Erlebens auf Stoffwechselprozesse im Gehirn reduziert werden können, stellt sich ganz grundsätzlich. Und davon ausgehend: Wie kann das beeinflusst werden? Neurologie und Psychiatrie haben Mittel dafür. Und die angewandte Psychologie, um die es hier nicht geht, hat dafür auch ihre Methoden.
Was Philipp Sterzer, wie eingangs erwähnt, besonders bewegt, ist das Aufeinanderprallen von Überzeugungen, die eine Gesellschaft auch spalten können. Da hat er zweifellos er Recht: „Wir brauchen eine Kultur der Unsicherheitstoleranz“, weil „die Realität eben nicht eindeutig ist und einfache Wahrheiten trügerisch sein können. Anderseits aber ist es auch problematisch, Überzeugungen grundsätzlich zu relativieren.
Philipp Sterzer: Die Illusion der Vernunft. Warum wir von unseren Überzeugungen nicht zu überzeugt sein sollten. Ullstein, 318 S., geb., 23,99 €.