„Stirbst du, Papa?“
„Das späte Leben“ von Bernhard Schlink: Nachdenken über Lebenssinn
Irmtraud Gutschke
Krebs. Schlimme Diagnose. In der Bauchspeicheldrüse – die schlimmste. Auch wenn der Arzt sagt, dass die Medizin inzwischen schon weiter sei, er gibt dem Erzähler dieses Romans kaum mehr als ein halbes Jahr. Sofort kommt einem in den Sinn, ob dies wohl eine eigene Erfahrung des Autors sei. Bernhard Schlink ist 79. Da braucht es keine schwere Krankheit, um immer mal wieder über den Abschied vom Leben nachzudenken. Sein Erzählungsband „Abschiedsfarben“ wurde 2020 zum Bestseller, so wie andere seiner Bücher auch. Dies nun ist seine 14. Veröffentlichung bei Diogenes, und, wie man die ganze Zeit hofft, nicht seine letzte. Mag er sich noch lange am Schreiben festhalten, wie es im Buch auch Martin Brehm versucht.
76 ist er, mit einer dreißig Jahre jüngeren Frau verheiratet und hat einen sechsjährigen Sohn. Beide reagieren auf die schlimme Nachricht zunächst eher pragmatisch. Ulla umarmt ihn, verspricht, ihm beizustehen. David fragt: „Stirbst du, Papa?“ Sie unternehmen noch eine Wanderung zusammen, legen gemeinsam einen Komposthaufen an. Sie machen einen Ausflug zu einem Freizeitpark … Manchmal fühlt er sich besser, dann wieder Wellen von Müdigkeit. Aber es gibt im Buch kein Klagen, keine Wehleidigkeit, und die Besuche beim Arzt halten sich in Grenzen. So wie es bei Michel de Montaigne heißt, „Philosophieren heißt sterben lernen“, übt sich der Autor in den großen Fragen.
Wie soll man sein Leben leben? Welche Erkenntnisse kann Martin seinem Sohn hinterlassen? Doch wohl nicht nur, dass man sich täglich die Zähne putzen soll. Der Brief an David, kursiv gedruckt, ist gleichsam ein Essay im Roman. Um Gott und die Welt geht es, um Erinnerungen und immer wieder um Liebe. Es soll sozusagen sein Vermächtnis sein, auch uns, den Lesern zugedacht.
Aber wie kann der Roman weitergehen? Wie soll er enden? Doch wohl nicht mit einer rührseligen Sterbeszene. Auch die Nachricht einer Spontanheilung hätte zwar den Protagonisten, aber nicht dem Text gut getan. Also entschloss sich Bernhard Schlink im zweiten Teil ab Seite 113 zu einer Überraschung. Martin beobachtet einen Mann, der seine Frau umarmt. Und er kommt ihm sogar auf die Spur. Als ehemaligen Professor für Rechtsgeschichte – auch Bernhard Schlink war bekanntlich Professor für öffentliches Recht – hat er Verbindungen zu Behörden. Aber damit nicht genug: Ulla leidet daran, dass ihr Vater sie in früher Kindheit verlassen hatte. Da begibt sich ihr kranker Gatte auf Recherchen und erfährt Überraschendes. Soll er Ulla von ihrem Vater erzählen? Soll er sie auf ihr Doppelleben ansprechen? Wie würde es sein, wenn er nicht mehr da war? Müsste er sich um seine Beerdigung kümmern?
Und dann, ab Seite 207, kommt noch eine überraschende Wendung. Die letzte. Weitere Überraschungen würde man nicht glauben. Es ist ein ergreifender Roman über Liebe und Abschied. Ein schwieriges Thema. Bewunderung für den Autor, wie er es bewältigt hat.
Bernhard Schlink: Das späte Leben. Roman. Diogenes Verlag. 240 S., geb., 26 €.