Willkommen in meinem Literatursalon
Irmtraud_Gutschke

Lesen macht glücklich, weil es uns sagt, wer wir sind und wer wir sein wollen, weil wir über uns hinauswachsen, in fremder Haut erleben dürfen, was uns sonst verschlossen bliebe. Heutzutage scheinen wir ja in Informationen zu ertrinken und haben doch das Gefühl, dass uns Wichtiges fehlt. Was ich suche, sind Bücher, die in diesem Sinne nachdenklich machen, ja auch solche, von denen ein Leuchten ausgeht. Viele Jahrzehnte habe ich als Literaturredakteurin mit Hunderten, ja Tausenden von Texten zu tun gehabt, auch selber Bücher geschrieben. Die Neugier auf Neues will ich hier mit anderen teilen.

„literatursalon.online“: Stellen Sie sich vor, wir sind zusammen in einem schönen Saal, und Sie möchten von mir wissen, was sich zu lesen lohnt. Was interessiert Sie denn, frage ich zurück. Politische Sachbücher? Gute Romane und Erzählungen? Spannende Krimis? Bildbände, die man immer wieder betrachten möchte? Mit meiner Auswahl lade ich Sie zu Ihren eigenen Entdeckungen ein.

Irmtraud Gutschke

Wenn Sie mehr über mich erfahren wollen - meine Biografie, meine Bücher und Veranstaltungen - , schauen Sie auf meine Webseite www.irmtraud-gutschke.de

Kai Lüftner: Der Verwechsling

„Die Unterirdischen“

Irmtraud Gutschke

Eines Tages saß es im Schnee. Einfach so. Etwa zwei Jahre alt war der Kleine, pitschnass in seiner viel zu großen, ausgeleierten Hose. Er weinte nicht und würde auch später kaum ein Wort sagen. Per und Tove, die beiden alten Leute, die ihn gefunden hatten, versuchten vergeblich, etwas über seine Eltern in Erfahrung zu bringen. So blieb er bei ihnen. Vilmar war kein Junge wie alle anderen, das spürten sie gleich. Aber er war ihr ein und alles…

Spannend bis zum Schluss ist die Geschichte, die Kai Lüftner da erzählt. Wird sich Vilmars geheimnisvolle Herkunft aufklären und wie? „Verwechsling“ – das Wort gibt es im Deutschen nicht. Aber im Dänischen vielleicht? Der Autor, 1975 in der Hauptstadt der DDR geboren, lebt seit 2019 auf einer dänischen Insel, fasziniert von den Sagen und Legenden, die dort noch lebendig sind. Riesen, Trolle, Meerjungfrauen, Elfen, Zwerge, Feen – wie man die geheimnisvollen Wesen auch nennen mag, die auf unsichtbare Weise uns Menschen umgeben – unsere fernen Vorfahren lebten noch auf selbstverständliche Weise mit ihnen. Für uns existieren sie immerhin noch im Märchenreich.

Vielleicht gibt es ja das Märchen vom „Verwechsling“ wirklich, und Kai Lüftner hat es nur auf seine Weise neu erzählt? Emilia Dziubak hat einen zarten Knaben mit großen Augen gemalt, der staunt und lauscht und irgendwann wie gebannt zu lesen beginnt. Da spricht er immer noch nicht, aber er hat diesen sehnsuchtsvollen Blick, wenn er aufs Meer schaut, das hier wirklich wie verzaubert erscheint. „Er schien Dinge zu sehen und zu hören, allgemein wahrzunehmen, die ihnen verborgen blieben“, und manchmal meinten die beiden Alten, dass er ihre Gedanken lesen konnte.

„Die Weihnachtszeit verbrachten sie in trauter Dreisamkeit, Kakao trinkend, spazieren gehend, lesend vor dem Kamin. Doch dann trafen sie am Strand den alten Hendrik, der für Vilmar ein Buch mitgebracht hatte. Es handelte von den „Unterirdischen“, seltsamen Wesen, die angeblich in der Erde, unter Hügeln, in hohlen Bäumen und tiefen Höhlen lebten. Schauergeschichten?

Ein Märchen, gewiss. Aber hier wird jenes verzauberte Universum lebendig, das immer noch für viele Völker selbstverständlich ist, auch wenn es für uns längst versunken ist.

Kai Lüftner: Der Verwechsling. Ein skandinavisches Märchen. Illustrationen Emilia Dziubak. Ars Edition, 40 S., geb., 16 €.

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