Willkommen in meinem Literatursalon
Irmtraud_Gutschke

Lesen macht glücklich, weil es uns sagt, wer wir sind und wer wir sein wollen, weil wir über uns hinauswachsen, in fremder Haut erleben dürfen, was uns sonst verschlossen bliebe. Heutzutage scheinen wir ja in Informationen zu ertrinken und haben doch das Gefühl, dass uns Wichtiges fehlt. Was ich suche, sind Bücher, die in diesem Sinne nachdenklich machen, ja auch solche, von denen ein Leuchten ausgeht. Viele Jahrzehnte habe ich als Literaturredakteurin mit Hunderten, ja Tausenden von Texten zu tun gehabt, auch selber Bücher geschrieben. Die Neugier auf Neues will ich hier mit anderen teilen.

„literatursalon.online“: Stellen Sie sich vor, wir sind zusammen in einem schönen Saal, und Sie möchten von mir wissen, was sich zu lesen lohnt. Was interessiert Sie denn, frage ich zurück. Politische Sachbücher? Gute Romane und Erzählungen? Spannende Krimis? Bildbände, die man immer wieder betrachten möchte? Mit meiner Auswahl lade ich Sie zu Ihren eigenen Entdeckungen ein.

Irmtraud Gutschke

Wenn Sie mehr über mich erfahren wollen - meine Biografie, meine Bücher und Veranstaltungen - , schauen Sie auf meine Webseite www.irmtraud-gutschke.de

Wolf R. EISENTRAUT: Zweifach war des Bauens Lust

Aufbau – Abbau
Erinnerungen des Architekten Wolf R. Eisentraut
Irmtraud Gutschke

Das Titelbild des Buches zeigt den Architekten in schwindelerregender Höhe. Der Schutzhelm wird ihm kaum helfen, wenn die Mauer unter ihm zusammenbricht. Sie bröckelt ja schon, aber er lacht, macht sozusagen gute Miene zum bösen Spiel. Denn auch der nach 1990 beschlossene Rückbau von Plattenbauten brauchte kundige Leute. Dabei war es für ihn eine bittere Erfahrung, hatte er doch maßgeblich an der Entwicklung des Haustyps WBS 70 mitgewirkt. Aber die „Platte“ wurde abgewertet, wie alles, was im „Osten“ gebaut worden war. „Nach der Sinnhaftigkeit solch planmäßiger Vernichtung materieller und räumlicher Ressourcen wurde nicht gefragt. Auch ökologische Zusammenhänge waren nicht von Interesse …“ So ist für Wolf R. Eisentraut als nunmehr freischaffender Architekt nicht nur der Neubau, sondern auch der Umbau und die Sanierung bestehender Bausubstanz im Osten Deutschlands zur neuen Herausforderung geworden.
Ungeahnt, denn als er seinen Weg als Architekt begann, hätte sich niemand eine solche Verschwendung und Vernichtung vorstellen können, in der viele Ostdeutsche auch Verachtung spürten. Aufbau war in der DDR angesagt, um möglichst vielen Menschen Wohnungen zu verschaffen. Wobei industrielles Bauen für Architekten eine besondere Herausforderung war. Ideen und Durchsetzungskraft waren nötig, damit Typenprojektierung nicht zur Monotonie führte.
In Berlin-Marzahn wohnend, war mir vor der Lektüre dieses dicken Buches gar nicht bewusst gewesen, dass die Planung vom Marzahner Tor über Promenade und Platz am Kulturhaus, den Wohngebietspark bis zu den Ringkolonnaden auf Eisentrauts Schreibtisch entstand. Jeden Tag gehe ich an den Hochbauten am Helene-Weigel-Platz vorbei, neben denen er von 1981/82 noch zwei Kaufhallen, ein Kaufhaus, Dienstleistungsgebäude, Bibliothek, Sparkasse, Buchhandlung, Eiscafé, einschließlich Freiflächengestaltung und Brunnenanlage entwarf. Auch das Kino „Sojus“ war sein Werk. Seit sieben Jahren ist es geschlossen und soll nun, wie es heißt, abgerissen werden.
Abgerissen wurde auch der Palast der Republik. Eröffnung am 23.4. 1976, Schließung schon 1990: Wolf R. Eisentraut war damals für den Mittelteil mit Eingangs- und Garderobenhalle, das Hauptfoyer mit Galerie, die Hallenbar, die Pausen- und Banketthallen sowie das Theater im Palast verantwortlich gewesen.
Auf eine lebendige, anschauliche, ja unterhaltsame Weise erzählt er im Buch von seinem „Werden“, „Wirken“ und „Weiterbauen“: Maurerlehre und Studium, erste Hoffnungen und Ernüchterungen, die inspirierende Zusammenarbeit mit Hermann Henselmann (1905-1995), der maßgeblich das Berliner Stadtbild prägte. Dazu gibt es eine Vielzahl von Fotos und Skizzen. Vor allem aber werden im Buch aus persönlicher Erfahrung gesellschaftliche Hintergründe und Zusammenhänge beleuchtet bis hin zur heutigen Realität in der BRD.
Wie sich in der DDR die Auffassungen vom Bauen änderten, ist zu erfahren – von strenger Reglementierung in den 50er Jahren hin zu schöpferischen Freiräumen in den 60ern, dem Entstehen einer „Ostmoderne“, wofür das Kino Kosmos und das Haus des Lehrers in der Karl-Marx-Allee Beispiele sind. Die Durchsetzung massenhaften Wohnungsbaus in vielen Bezirken dürfte vielen noch in Erinnerung sein. Wobei die „Unterordnung der Architektur unter das Bauwesen im Allgemeinen und in die Baukombinate im Besonderen erhebliche Einschränkungen des gestalterischen Spielraums“ mit sich brachte. „Das verlangte starke Persönlichkeiten… Denn wer sonst wenn nicht die Architekten selbst konnten als Sachwalter der Baukultur auftreten …“
Wohnraum für alle ist in der DDR als staatliche Hauptaufgabe ausgerufen worden. Dass dieser für jeden bezahlbar sein sollte, brauchte nicht betont zu werden.


Wolf R. Eisentraut: Zweifach war des Bauens Lust. Architektur, Leben, Gesellschaft. Lukas Verlag, 379 S. m. zahlr. Abb., 40 €.

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