Willkommen in meinem Literatursalon
Irmtraud_Gutschke

Lesen macht glücklich, weil es uns sagt, wer wir sind und wer wir sein wollen, weil wir über uns hinauswachsen, in fremder Haut erleben dürfen, was uns sonst verschlossen bliebe. Heutzutage scheinen wir ja in Informationen zu ertrinken und haben doch das Gefühl, dass uns Wichtiges fehlt. Was ich suche, sind Bücher, die in diesem Sinne nachdenklich machen, ja auch solche, von denen ein Leuchten ausgeht. Viele Jahrzehnte habe ich als Literaturredakteurin mit Hunderten, ja Tausenden von Texten zu tun gehabt, auch selber Bücher geschrieben. Die Neugier auf Neues will ich hier mit anderen teilen.

„literatursalon.online“: Stellen Sie sich vor, wir sind zusammen in einem schönen Saal, und Sie möchten von mir wissen, was sich zu lesen lohnt. Was interessiert Sie denn, frage ich zurück. Politische Sachbücher? Gute Romane und Erzählungen? Spannende Krimis? Bildbände, die man immer wieder betrachten möchte? Mit meiner Auswahl lade ich Sie zu Ihren eigenen Entdeckungen ein.

Irmtraud Gutschke

Wenn Sie mehr über mich erfahren wollen - meine Biografie, meine Bücher und Veranstaltungen - , schauen Sie auf meine Webseite www.irmtraud-gutschke.de

Cao Wenxuan: Sommer

„Alle zusammen“

Irmtraud Gutschke

Der Titel passt gerade nicht zu dieser Jahreszeit. Aber wahrscheinlich ist der Band nicht viel früher fertig geworden. Und eigentlich passt er doch. Denn der Herbst lässt die Sehnsucht nach dem Sommer aufscheinen und mildert sie durch die Erinnerung, dass es da auch extrem heiß sein kann. Also sind wir doch zufrieden mit den etwas kühleren Temperaturen und freuen uns, wenn es regnet.

Die Tiere, von denen der chinesische Autor Cao Wenxuan erzählt, leiden durch Hitze und Trockenheit. Die Illustrationen von Yu Rong führen es uns so richtig vor Augen. Keine Wiese mehr, und die Erde ist wie Staub. Wo könnte man wohl Schutz finden? Da, ein Baum! Ein Wettrennen beginnt, und das dickste, stärkste Tier setzt sich durch.

So kennt man das ja auch in der menschlichen Welt: Konkurrenz um knappe Ressourcen. Aber findet der Elefant nun etwa ein wenig Kühle? Von wegen, der Baum hat wegen der Hitze schon keine Blätter mehr. Und die von ihm geprellten Tiere lachen den Elefanten aus.

Aber da nimmt die Geschichte eine Wendung, als ein Vater den Sohn in seinem Schatten gehen lässt. Gute Idee: Größere können also Kleinere schützen, statt sie zu übervorteilen. Und nun bilden die Seiten des Buches einen Fächer. Der Luchs lädt die Maus in seinen Schatten ein. Das gleiche tut der Schakal mit dem Luchs, dem wiederum der Leopard helfen kann. Dann lassen Bär und Nashorn nicht lange auf sich warten. Und wer ist der Größte? Der Elefant. Er hat nun niemanden in seinem Rücken, weil er eben der Größte ist. Und darüber gibt es keine Bedauern. Denn Größe bedeutet nun mal Verantwortung.

Es ist bezeichnend, dass dieses Buch 2014 in China entstanden ist, wo der Gedanke der Gemeinschaftlichkeit viel lebendiger ist als hierzulande. „Tianxia“ – alle unter einem Himmel – ist ein uraltes Prinzip der chinesischen Philosophie und wird von heutigen Philosophen wiederbelebt. Der Himmel mischt sich dann auch in dieser einprägsamen Geschichte ein. Noch brennt die Sonne, aber eine kleine Wolke erscheint. „Sie bleibt, und die Tiere finden Platz in ihrem Schatten. Alle zusammen.“

Cao Wenxuan: Sommer. Illustrationen von Yu Rong. leiv Leipziger Kinderbuchverlag, 40 S., geb., 12,90 €.

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