Willkommen in meinem Literatursalon
Irmtraud_Gutschke

Lesen macht glücklich, weil es uns sagt, wer wir sind und wer wir sein wollen, weil wir über uns hinauswachsen, in fremder Haut erleben dürfen, was uns sonst verschlossen bliebe. Heutzutage scheinen wir ja in Informationen zu ertrinken und haben doch das Gefühl, dass uns Wichtiges fehlt. Was ich suche, sind Bücher, die in diesem Sinne nachdenklich machen, ja auch solche, von denen ein Leuchten ausgeht. Viele Jahrzehnte habe ich als Literaturredakteurin mit Hunderten, ja Tausenden von Texten zu tun gehabt, auch selber Bücher geschrieben. Die Neugier auf Neues will ich hier mit anderen teilen.

„literatursalon.online“: Stellen Sie sich vor, wir sind zusammen in einem schönen Saal, und Sie möchten von mir wissen, was sich zu lesen lohnt. Was interessiert Sie denn, frage ich zurück. Politische Sachbücher? Gute Romane und Erzählungen? Spannende Krimis? Bildbände, die man immer wieder betrachten möchte? Mit meiner Auswahl lade ich Sie zu Ihren eigenen Entdeckungen ein.

Irmtraud Gutschke

Wenn Sie mehr über mich erfahren wollen - meine Biografie, meine Bücher und Veranstaltungen - , schauen Sie auf meine Webseite www.irmtraud-gutschke.de

Der Untergang des Hauses Usher

Die Risse im Gemäuer

Edgar Allan Poes Horrorgeschichte als Graphic Novel

Irmtraud Gutschke

Auf Seite 18 sieht man sie das erste Mal – die Risse im Gemäuer eines altehrwürdigen Gebäudes, das schon viel brüchiger ist, als sein Hausherr noch glaubt. Aber wer weiß: Roderick Usher ist wohl längst vom Wahnsinn gepackt, als er seinen Freund um einen Besuch bittet. Und dieser Ich-Erzähler wird schon von „einer hilflosen Traurigkeit“ befallen, bevor er das Anwesen betritt. Die Erzählung von Edgar Allen Poe lebt von bedrückenden Ahnungen, die umso verstörender sind, weil der Ich-Erzähler eben nicht geisteskrank ist wie sein Freund. Er will (wie auch der Leser) die Dinge durchschauen und ist doch von der gespenstischen Atmosphäre gepackt.

Horror: Der italienische Künstler Andrea Grosso Ciponte hat Poes Erzählung gleichsam in einen Film übersetzt: Schwarz, grau, weiß, düstere Korridore, gespenstische Gestalten, Treppen ins Nirgendwo. Nur vier Seiten lang kommt Farbe ins Bild: Wie auf einem Renaissancegemälde erscheint ein prächtiger Palast, der aber zunehmend von Dämonen bevölkert wird. „Ekle Geister“, schon bevor wir der Gruft ansichtig werden, in der sich Schreckliches ereignet, das man niemals vergessen wird.

„Ich sah, dass er der Furcht, dem Schreck, dem Grauen sklavisch unterworfen war.“ – Mit sehr wenig Text kommt der Künstler aus. Er lässt die Bilder sprechen. Bilder, bei denen man an einen Stummfilm denkt, so rätselhaft, so ausdrucksstark. Bilder voller Einfälle, die weit über die literarische Vorlage hinausweisen. Da wandert der Erzähler nicht nur durch „dunkle gewundene Gänge“ in diesem verfallen Adelssitz, sondern gleichsam auch durch die Fasern seines eigenen Gehirns, seines Körpers. Aus seinem Inneren heraus starrt ihn ein fruchterregendes Gesicht an, als ob er selbst „in den Irrsinn“ gestoßen würde.

Roderick Ushers Wahnsinn hat seinen Grund in einem schrecklichen Verbrechen, wie wir erfahren werden. Aber das Grauen des Freundes ist umso tiefer, weil es ohne Erklärung aus sich selbst zu kommen scheint. Die Angst, den Verstand zu verlieren, Edgar Allan Poe kannt sie wohl und hat sie auf unnachahmliche Weise zur Sprache gebracht. Er hatte den Mut, die Tür zum Irrationalen zu öffnen und Dunkles zu uns vordingen zu lassen, ja sogar ein Tabu zu brechen, das bis heute Macht hat: Geschwisterliebe, an der Usher wohl verzwifelt ist. So nämlich deuten Andrea Grosso Ciponte und Dacia Palmerino, die die Textadaption schuf, die Erzählung, die seit 1839 ihre Kraft nicht verloren hat.

„Tiefschwarze Romantik im Gewand einer Gothic Fiction“: Andrea Grosso Ciponte, der für Edition Faust schon mehrere Graphic Novels schuf – zu E.T.A. Hoffmanns „Sadmann“, Schillers „Geisterseher“, Kleists „Marquise von O…“, Walpoles „Schloss Otranto“ und Storms „Schimmelreiter“, hat für diese neue Arbeit erstmals mit einer KI-gestützten Software auf dem Tablet gezeichnet, um „visuelle Paradoxien“ zu nutzen. Wie das konkret vonstatten gegangen ist, vermag ich mir nicht vorzustellen, aber dabei sind ihm schier unglaubliche Effekte gelungen. Jedes Bild in dieser Graphic Novel erscheint wie ein Kunstwerk für sich.

Andrea Grosso Ciponte: Der Untergang des Hauses Usher. Nach Edgar Allan Poes „The Fall of the House of Usher“, adaptiert von Dacia Palmarino und gezeichnet von Andrea Grosso Ciponte. Aus dem Italienischen von Myriam Alfano. Edition Faust, 64 ., geb., 24 €.

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