„Lebensbegleiter“
„Der ewige Brunnen. Deutsche Gedichte aus zwölf Jahrhunderten“
Irmtraud Gutschke
Ein Band, den man immer griffbereit haben möchte, um darin zu blättern und sich festzulesen. Ein Band, der für ein ganzes Leben reicht. Dafür gibt es eine freilich abgegriffene Bezeichnung: Hausbuch. Die Gedichtsammlung „Der ewige Brunnen“ ist bereits ein Klassiker, der schon verschiedene Herausgeber hatte. Mir begegnet sie zum ersten Mal. Und ich weiß: Sie wird mir wichtig bleiben. Das liegt nicht nur daran, dass hier sage und schreibe 1200 Gedichte aus zwölf Jahrhunderten gesammelt sind, was allein schon eine große Leistung ist, sondern vor allem auch an der Art und Weise, wie Dirk von Petersdorff sie einem nahe bringt. Er ist ja nicht nur Literaturwissenschaftler, an meiner einstigen Alma Mater, der Universität Jena, als Professor für Neuere deutsche Literatur tätig, sondern auch selber Lyriker. Viele Gedanken hat er sich dazu gemacht, „wozu Gedichte da sind“, wie eine Rede in München hieß.
Die Gedichte dieses Bandes sieht Dirk von Petersdorff als „Lebensbegleiter“, gesteht ihnen sozusagen eine praktische Bedeutung zu, „wenn man Ermutigung oder Trost braucht, ein Gedicht zu einem bestimmten Anlass benötigt, wenn man zu einer eigenen Naturerfahrung einen lyrischen Ausdruck sucht oder sich etwas zum Lachen gönnen möchte.“ Folglich hat er seine Gedichtauswahl in Rubriken gegliedert. Da geht es um Jugend und Alter, Todesgedanken und Naturerfahrungen, um Einsamkeit, Feste, um Mythen und Legenden, sogar um das Feld der Politik … Seinen Leserinnen und Lesern gesteht er also zu, dass sie die 1167 eng gedruckten Seiten nicht auf einen Ritt lesen, sondern sich jeweils das heraussuchen, was ihnen im Moment wichtig ist. Mit diesem pragmatischen Ansatz tut er uns einen großen Gefallen. Wer das Buch einmal in den Händen hat, wird schnell merken, dass es auch künftig nützlich sein könnte. Nützlich? Der Herausgeber hat zu Recht aus eigener Erfahrung der Wirkung vertraut, die von Gedichten ausgehen kann. Wer einmal in diesen „ewigen Brunnen“ eingetaucht ist, wird es immer wieder tun.
Von Hans Aßmann von Abschatz (1646-1699) bis Unica Zürn (1916-1970) reicht das achtseitige Personenregister. Fern liegt es mir, an der Auswahl herumzukritteln, schließlich kann sie nur eine persönliche sein. Aber ein Ausruf sei mir gestattet: Lieber Herr von Petersdorff, schauen Sie sich doch für eine Nachauflage mal das Werk von Eva Strittmatter an! Gerade im Osten Deutschlands ist sie so populär, und auch im Westen könnte sie das sein. Da gibt es ein Nachholbedarf, da ist etwas zu entdecken, gerade unter dem Gesichtspunkt, dass Gedichte Lebensmittel sind.
Dirk von Petersdorff (Hg.): Der ewige Brunnen. Deutsche Gedichte aus zwölf Jahrhunderten. Verlag C.H. Beck, 1167 S., Leinen, 28 €.