Wie Lesen uns lebenswichtig wird
George Saunders spürt der Kunst russischer Autoren nach
Das allein schon ist bemerkenswert: Ein Berühmter der US-amerikanischen Literatur lobt seine russischen Kollegen. Nun, nicht die von heute. Als George Saunders dieses Buch veröffentlichte, schwelte erst, was ab 2022 zum europäischen Brand geworden ist und nicht nur zu Sanktionen, sondern gar zur Ausgrenzung russischer Kunst im Westen führt. Auch nicht die aus Sowjetzeiten, die uns in der DDR so viel gegeben haben. Aber auch auf diese Autoren – ob Granin oder Schukschin, Tendrjakow oder Trifonow, Schatrow oder Aitmatow – trifft zu, was er über die russische Literatur des 19. Jahrhunderts sagt: Diese Werke sind „bewegend. Was darin passiert, bedeutet uns etwas. Sie wurden geschrieben, um herauszufordern, zu provozieren, zu empören. Und auf komplexe Weise zu trösten.“
Da meint er einen Literaturbegriff, der mir über die Jahrzehnte so selbstverständlich erschien, dass ich ihn höchstens von seichter Unterhaltungsbelletristik abgrenzte: „Literatur nicht als etwas Dekoratives zu betrachten, sondern als lebenswichtiges ethisch-moralisches Werkzeug. Sie zu lesen veränderte einen, auf einmal war es, als erzählte die Welt eine andere, interessantere Geschichte, in der man selbst eine bedeutsame Rolle spielen könnte und in der man Verantwortung trug.“
Allein schon wegen dieser Passagen ganz Beginn ist mir das Buch wertvoll geworden. Den da wird, ganz unpolemisch, benannt, warum manche heutigen Werke der Literatur bei aller Kunstfertigkeit irgendwie unbefriedigend sind. Weil viele Autorinnen und Autoren nämlich nicht den Mut und die Kraft hatten, „die großen Fragen zu stellen: Wie sollen wir hinieden leben? Mit welcher Zielsetzung sind wir hierhergepflanzt worden? Was sollen wir wertschätzen? Was ist überhaupt die Wahrheit und wie können wir sie erkennen? Wie können wir unseren Frieden damit machen, dass manche Menschen alles haben und andere gar nichts? Wie sollen wir freudig in einer Welt leben, die anscheinend möchte, dass wir andere Menschen lieben, uns aber am Ende brutal und unweigerlich von ihnen trennt?“
Sieben Erzählungen werden in diesem Buch betrachtet: drei von Tschechow, zwei von Lew Tolstoi und eine von Nikolai Gogol. Texte, die ihn selbst tief beeindruckten, nimmt George Saunders als Lehrstücke für seine Meisterklasse im Fach Kreatives Schreiben der Syracuse University. Während er diesen Werken berühmter Autoren der klassischen russischen Literatur nachspürt, die wir hier auch in Gänze zu lesen bekommen, gelingen ihm zugleich hellsichtige Beobachtungen zum Lesen und Schreiben. „Erforschen wir, wie wir lesen, so erforschen wir, wie unser Geist vorgeht: wie er eine Äußerung auf seinen Wahrheitsgehalt überprüft, wie er sich über Raum und Zeit hinweg zu einem anderen Geist in Bezug setzt.“ Einem Schriftsteller, nicht einem ganzen Kamerateam. Was gerade die Faszination von Literatur ausmacht, das Dialogische, Saunders hat es wohl erkannt. „Eine Erzählung ist ein offenes, vertrauliches Gespräch unter Gleichen. Wenn wir lesen, lesen wir weiter, weil wir weiterhin das Gefühl haben, von der Autorin respektiert zu werden.“
Wie kann ein Autor mit Erwartungen spielen? Sollte tatsächlich alles in einer Geschichte einen Zweck haben? Wie werden literarische Gestalten für uns überzeugend? Solche Fragen diskutiert er mit seinen Studenten. Bemerkenswerte Feststellung: „Wir sehen oder hören nicht alles, was gesehen oder gehört werden könnte, sondern nur das, was uns hilft …Der Geist nimmt sich eine riesenhafte … Ganzheit vor (das Universum), wählt eine winziges Segment draus aus (mich) und fängt an, aus dieser Perspektive zu erzählen… In jedem Augenblick wird also eine Kluft der Einbildung geschaffen zwischen den Dingen, wie wir sie sehen, und den Dingen, wie sie wirklich sind.“ Gerade bei Gogol kann uns bewusst werden, „wie wir uns in unseren Alltagswahrnehmungen täuschen“.
Dass Texte ihre eigenen Weisheit besitzen, klüger sein können als ihr Autoren, wird hier in Bezug auf Lew Tolstoi beobachtet. Am eindringlichsten für mich sind die Betrachtungen zu Tschechow, wie er uns beim Lesen neugierig macht und uns immer wieder dazu bringt, vereinfachte Urteile zu revidieren. Woraus eine Erzählung Energie gewinnt, was unter einer effizienten Form zu verstehen ist, gehört zu den grundsätzlichen Fragen, die Saunders in seinem Kurs behandelt. Wobei er als preisgekrönter Autor von Erzählungen und Romanen ein besonderes Gespür dafür hat, wie andere ihre Texte aufbauen, und das viel lebendiger zur Sprache bringt als Literaturwissenschaftler das oft tun. Ein Beispiel: „Techechow stellt irgendein Phänomen aus der Mitte der Wirklichkeit in die Mitte eines Zimmers und lädt uns ein, darum herumzugehen und es aus verschiedenen Blickwinkeln zu betrachten.“
Wie erreicht man Spannung? Wodurch entsteht Vielschichtigkeit? Was auch immer zur Technik des Erzählens zu sagen wäre, grundlegend ist, dass an einem Text meist noch lange gearbeitet werden muss, um ihn zu verdichten.
„Der Unterschied zwischen einer großen und einer guten Schriftstellerin (oder einer guten und einer schlechten) liegt in der Qualität der Momententscheidungen, die sie beim Arbeiten trifft. Ihr schießt plötzlich ein Satz durch den Kopf. Sie löscht einen anderen. Sie streicht einen Absatz. Sie stellt zwei Wörter um, die schon seit Monaten in ihrem Text gestanden haben.“ – Das ist sehr gut gesagt, aber Moment mal: Das gilt doch auch für schreibende Männer!
Wie sehr möchte ich den Übersetzer Frank Heibert für die Genauigkeit und Lebendigkeit seiner deutschen Fassung loben. Aber hat Saunders tatsächlich immer wieder „Leserin“ oder „Schriftstellerin“ geschrieben, wenn er beide Geschlechter meint? Irre ich mich, wenn mir scheint, dass im Englischen das generische Maskulinum selbstverständlich ist? Wollte Frank Heibert sich der hiesigen, mitunter auch fragwürdigen Praxis des Genderns unterwerfen oder verspottet er sie insgeheim, während er uns damit irritiert? Wobei er nicht der einzige und erste ist, der mit der Verwendung der weiblichen Form jeder Sprachkritik aus dem Wege geht. Besonders erheitern fand ich das in einem gesellschaftswissenschaftlichen Buch, in dem immer wieder die „Kapitalistinnen“ kritisiert werden. Sind nun also die Frauen an allem schuld?
Aber zurück zu Saunders: Das Buch ist 1922 erschienen, einige Rezensionen hat es wohl gegeben. Aber jetzt könnte keine weitere gedruckt werden: Zu alt der Titel! Ehe der Markt dieses wunderbare Buch beiseite drängt, gar verschwinden lässt (ob es in Bibliothek steht, ist nicht sicher), kaufen Sie es, lesen Sie es.
George Saunders: Bei Regen in einem Teich schwimmen. Von den russischen Meistern lesen, schreiben und leben lernen. Aus dem amerikanischen Englisch von Frank Heibert. Luchterhand, 542 S., geb., 24 €.