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Mit ihnen allen unter einem Himmel
Irmtraud Gutschke
Tschingis Aitmatow, 1928 in Scheker geboren, 2008 in Nürnberg verstorben, wäre im Dezember dieses Jahres 95 Jahre alt geworden. Gerade habe ich interessierte Leserinnen und Leser auf seinen Spuren durch Kirgistan begleitet und vom 6. bis 14. September will ich noch einmal so eine Reise machen. Wie man dort hinkommt, fragen manche, und ob es denn angesichts der Kampfhandlungen in der Ukraine sicher sei. Der Krieg ist dort weiter weg als von uns, aber die Auswirkung ist, dass man nicht mehr über Moskau fliegen kann. Umsteigen also in Istanbul. Der prächtige Flughafen dort lässt den in Berlin geradezu peinlich erscheinen. Und der Service bei Turkish Airlines ist erstklassig. In der kirgisischen Hauptstadt Bishkek angekommen, sieht man schon die schneebedeckten Berge des Tienschan. Und nachdem man am ersten Tag die Stadt besichtigt hat, geht es dort hinauf – über zwei Pässe von 3200 Metern zum Geburtsort Aitmatows, Scheker.
Da habe ich wieder einmal an Aitmatows Tiergeschichten gedacht. Denn unsere drei kleinen Busse haben sich immer wieder durch Tierherden quälen müssen. Lautes Hupen, doch die Pferde, Rinder, Schafe gaben die Straße nur widerwillig frei. Im Mai werden sie auf die Sommerweide getrieben. Ein Hirt zu Pferde muss das mit seinem Hund für 50, 100 Tiere schaffen. Ende September geht es wieder zurück, denn wenn Frost und Schnee die Passstraßen versperren, wird das schwierig und gefährlich. Sie werden sich nur von Gras ernähren – mehr Öko geht nicht – und man sieht es ihnen auch an. Besonders den Pferden, die so langbeinig und grazil sind, dass sie die unsrigen in den Schatten stellen. Das Kraftfutter, klar. Die industrielle Ernährung führt ja auch bei Menschen zu Übergewicht.
Wunderschöne Pferde in allen Farben. Die goldgelben ließen mich an Gülsary denken, den Hengst aus Aitmatows Roman „Abschied von Gülsary“, in dem auch von verlorenen Illusionen die Rede ist. Welche Träume waren mit dem sozialistischen Ziel verbunden und was ist daraus geworden? Wie kann sich der Hirt aus seiner Verzweiflung retten? „Gülsary, der Passgänger“ heißt die erste Geschichte im Band Tschingis Aitmatow „Tiergeschichten“. Passgänger sind übrigens Pferde, denen ein besonderer Gang angeboren ist, bei dem der Reiter sehr bequem im Sattel sitzt. Darin wird auch ein Pferderennen vor Augen geführt, wie ich es mehrfach in Kirgistan erlebt habe.
Obwohl die Kirgisen ihre Pferde vergöttern, gehen sie mit ihnen nicht etwa zahm um. Da dürfte es für sie überraschend gewesen sein, mit welchem Mitgefühl Aitmatow den Hengst beschreibt. Von innen heraus. Man spürt, was er fühlt, ohne dass er imstande wäre, menschliches Verhalten zu begreifen. Da kommt eine besondere künstlerische – und auch menschliche – Gabe Aitmatows zum Tragen: Er kann Tiere von innen heraus, aus ihrer Eigensicht, beschreiben.
In besagtem Reiterspiel sind Mensch und Pferd gleichsam miteinander verwachsen im Rausch des Rennens, das ja kriegerische Erfahrungen zum Hintergrund hat. Als das Fest vorbei ist, in der folgenden Nacht, treibt es den Hengst zur Herde. Indes mitten im Fluss reißt der Herr hart am Zügel und wendet. Jetzt oder nie. Und Bübüdshans „Augen flammten auf und erloschen wie die Steine auf dem Grund einer mondbeschienenen Tränke“.
In Bübüdshan verbirgt sich übrigens eine reale Frau: Bjubjusara Bejschenaliewa, die erste Primaballerina des kirgisischen Balletts. Als der Schriftsteller sie 1959 kennenlernte, war er bereits verheiratet, hatte zwei Söhne. Doch diese neue Leidenschaft war so lebendig, so zwingend. Immerhin, 14 Jahre hatten sie zusammen. Der Hirt Tanabai aber hatte mit seiner Bübüdshan nicht mal einen Sommer. Bei einem Gewitter hat seine Frau die Romanze entdeckt; er musste sie beenden. Wie einfach haben es dagegen die Tiere. Geradlinig folgen sie ihrem Trieb.
„Der Kamelhengst Karanar“ aus der zweiten Geschichte wird in seiner Brunst zu einem tobenden, rasenden Ungeheuer. Er jagt dorthin, wo er Stuten wittert und greift andere Hengste an. Während sein Besitzer sich gegenüber der jungen Saripa zurückhalten muss – aus Rücksicht auf seine treue Frau Ukubala. Die Episode stammt aus dem für mich wohl bedeutendsten Roman Aitmatows: „Ein Tag länger als ein Leben“ auch unter dem Titel „Der Tag zieht den Jahrhundertweg“ bekannt. Wie erbarmungslos Edige auf sein Kamel einschlägt, als Saripa in seiner Abwesenheit in den Zug gestiegen ist!
Obwohl Kirgisen ihren Tieren verbunden sind, ist es doch im allgemeinen ein eher pragmatisches Verhältnis. Sie stellen einen Wert dar. Pferde braucht man zum Reiten, aber auch zum Schlachten. Gerade im Norden Kirgistans, wo Aitmatow herstammt, lebt man seit altersher vornehmlich von der Weidewirtschaft und nicht vom Ackerbau. Wenn Gäste kommen, wird mindestens ein Lämmchen geschächtet. Das ist keine sentimentale Angelegenheit.
Dass Aitmatow eine Wölfin in den Mittelpunkt seines Romans „Der Richtplatz“ stellte, so mitfühlend, wird das manche seiner Landsleute irritiert haben. Wölfe sind doch die Feinde der Hirten. Aber sie sind auch Totemtiere. Wie bei vielen Nomadenvölkern – ich denke da auch an die nordamerikanischen Indianer – hat jeder kirgisische Stamm ein Totemtier: Wolf, Hirschkuh, Bergschaf, Bergadler, Uhu, zu dem es eine mythisch verwandtschaftliche Beziehung gibt.
In besonderem Maße gilt das für den Schneeleoparden. Fast unerreichbar für den Menschen, weil er im ewigen Eis im Hochgebirge lebt, gilt er in ganz Mittelasien bis hin nach Tatarstan und China als Krafttier, mit dessen spiritueller Hilfe der Mensch immer wieder Hindernisse überwinden und den inneren Dämon besiegen kann. Ein geradezu heiliges Wesen, das heute vom Aussterben bedroht ist. Wie Aitmatow in seinem Roman „Der Schneeleopard“ erzählt, hat sich vor dem Hintergrund verbreiteter Armut in seinem Land schon ein regelrechter Jagdtourismus entwickelt.
Dieser letzte große Roman Aitmatows ist voller Schmerz. Nach dem Zerfall der Sowjetunion sind auch die Menschen in Kirgistan einem gnadenlosen Kapitalismus unterworfen worden. Hemmungslose Bereicherung auf der einen Seite, massenhafte Armut auf der anderen. Aber die sieht man heute so dort nicht. Jeder versucht, sich irgendwie über Wasser zu halten, sich vielleicht mit einem kleinen Laden selbstständig zu machen. Viele, viele kleine Geschäfte. Aber unsere Reiseleiterin, die Deutsch und Englisch studiert hat, würde eben in der Universität viel weniger verdienen. Eine Frau mit Marktstand, sagte sie, bringt mehr nach Hause, als wenn sie als Lehrerin in die Schule geht. Und überall, wo wir zu Gast waren, bogen sich die Tische unter der Last köstlicher Speisen.
In den 1980er Jahren wurden in Kirgistan noch an die 1400 Schneeleoparden gezählt, jetzt sind es nicht mehr als 350. Aber in der Geschichte „Dschaa-Bars, der Schneeleopard“, die dem Beginn des Romans entnommen ist, wird erst einmal ein großes Liebeslied gesungen. Das ist zugleich ein tragischer Abgesang, weil das alternde Tier die Kräfte verlassen haben. Noch nie zuvor hatte Aitmatow solche überwältigenden Liebesszenen gemalt. Wie der Leopard mit seiner „Barsin“, darf dann auch der gedemütigte Journalist Arsen Samantschin mit seiner Elesa eine Ekstase erleben, wie sie der Autor in früheren Romanen nur angedeutet hat. Miteinander auf der Erde lagen sie, ineinander verschlungen, und der „Himmel schmiegte sich an sie beide und ergötzte sich an ihnen“.
Der Himmel, der sich über die Berge und Steppen spannt: Wenn man durch Kirgistan reist, kann man das besondere Verhältnis nachempfinden, das die Nomadenvölker zu Himmel und Erde haben. Tengri, der Herr des blauen Himmels, hat einen Spiegel im blauen See Issyk-Kul, den man auch „das Auge des Himmels“ nennt. 182 km lang, 60 km breit, bis 668 m tief, liegt er 1607 m über dem Meeresspiegel. Seinem leicht salzigen Wasser wird eine heilende Wirkung nachgesagt. Im September will ich mit unserer Reisegruppe – es sind noch Plätze frei – mal den ganzen See umrunden, und wir werden auch baden können.
In der Erzählung „Die Klage des Zugvogels“, die im 17. Jahrhundert vor dem Hintergrund kriegerischer Auseinandersetzungen zwischen Kirgisen und Oiraten spielt, betet eine Mutter zu Tengri, um Schutz für ihre Familie zu erflehen. Und über dem Kampfgetümmel kreisen die Zugvögel, die alles sehen, aber in ihrer Qual ohnmächtig sind, etwas zum Guten zu verändern. Da bezieht sich die Klage des Zugvogels auf die ganze Welt: „Ich fliege und weine / fliege und weine / fliege und weine. Ich beschwöre Menschen und Götter:/ Bedenkt, was ihr tut, / dass ihr unbedacht nicht die Erde vernichtet!“
Wie mir das gerade jetzt aus dem Herzen spricht! „Die Ente Luwr“ aus der gleichnamigen Geschichte hat laut einer Legende der Niwchen nach einem Platz für ihr Ei gesucht, als die Erde noch von Wasser bedeckt war. Sie riss sich die Federn aus und ließ das Festland entstehen, auf dem wir heute leben. Den „Jäger Kodshodshash“ aber trifft die Rache der Grauziege, weil er ihr ganzes Geschlecht vernichtete und sogar ihren Bock nicht verschonte. „Der Selbstmord der Wale“ schließlich erscheint wie ein verzweifeltes Warnsignal. Was soll aus der Menschheit werden, die auf der Jagd nach Mehr und Mehr eine ökologische Katastrophe in Kauf nimmt und sich mit immer gefährlicheren Waffen an den Rand der Selbstvernichtung bugsiert?
Eine mitreißende Lektüre, die unvergesslich bleibt: Wir leben alle unter einem Himmel – mit allen Geschöpfen der Erde. Was für Nomaden selbstverständlich war, bedarf heute dringender Ermahnung. Alles im Zusammenhang zu sehen, dürfte in mancherlei Hinsicht einen Sinneswandel bedeuten – weg vom ausbeuterischen, konfrontativen Denken. Da sei zum Schluss ein Aitmatow-Zitat angefügt, das mir enorm wichtig für die Gegenwart erscheint: „Wenn mehrere Menschen ins Meer gestürzt sind, und jeder klammert sich nur an seinen Balken, dann sind sie zum Tode verurteilt. Sie müssen sich vereinen und die Balken zum Floß verbinden. Dann wird ihre Überlebenschance größer. Machen sie sich aber die Balken gegenseitig streitig, dann verlieren alle die Aussicht auf Rettung.“
Tschingis Aitmatow: Tiergeschichten. Unionsverlag Zürich, 186 Seiten, br., 13 €.
Reise nach Kirgistan, 6. bis 14. September 2023. Anmeldungen über leserreisen@mazz.berlin