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Irmtraud_Gutschke

Lesen macht glücklich, weil es uns sagt, wer wir sind und wer wir sein wollen, weil wir über uns hinauswachsen, in fremder Haut erleben dürfen, was uns sonst verschlossen bliebe. Heutzutage scheinen wir ja in Informationen zu ertrinken und haben doch das Gefühl, dass uns Wichtiges fehlt. Was ich suche, sind Bücher, die in diesem Sinne nachdenklich machen, ja auch solche, von denen ein Leuchten ausgeht. Viele Jahrzehnte habe ich als Literaturredakteurin mit Hunderten, ja Tausenden von Texten zu tun gehabt, auch selber Bücher geschrieben. Die Neugier auf Neues will ich hier mit anderen teilen.

„literatursalon.online“: Stellen Sie sich vor, wir sind zusammen in einem schönen Saal, und Sie möchten von mir wissen, was sich zu lesen lohnt. Was interessiert Sie denn, frage ich zurück. Politische Sachbücher? Gute Romane und Erzählungen? Spannende Krimis? Bildbände, die man immer wieder betrachten möchte? Mit meiner Auswahl lade ich Sie zu Ihren eigenen Entdeckungen ein.

Irmtraud Gutschke

Wenn Sie mehr über mich erfahren wollen - meine Biografie, meine Bücher und Veranstaltungen - , schauen Sie auf meine Webseite www.irmtraud-gutschke.de

Hermann Hesse: Klingsors letzter Sommer

Vor 100 Jahren entstand „Klingsors letzter Sommer“ von Hermann Hesse. Jetzt kam die Erzählung mit Illustrationen seiner Urenkelin wieder heraus

„Im alten Europa ist alles gestorben“

Von Irmtraud Gutschke

Hundert Jahre alt ist die Erzählung, doch liest man sie wie für den heutigen Tag geschrieben –als Aufschrei einer Künstler-, einer Menschenseele gegen die Vergänglichkeit, gegen diese Furcht, die dunkel ins Zimmer tritt und es irgendwann nicht mehr verlässt. Hermann Hesse war erst 42 als er seine Junggesellenwohnung in Montagnola über dem Luganer See bezog. Den Ersten Weltkrieg hatte er im Dienst der deutschen Gesandtschaft in Bern verbracht und ehrenamtlich für die deutsche Kriegsgefangenenfürsorge gearbeitet. Zwar hatte er seiner starken Kurzsichtigkeit wegen nicht an die Front gemusst, aber er spürte, dass etwas zerbrochen war. Seine Ehe war zerrüttet, mit der Betreuung seiner drei Kinder fühlte er sich überfordert und brachte sie bei Freunden und Bekannten unter. Das Jahr 1919 sah ihn allein in einer Wohnung in Montagnola über dem Luganer See. Dort ist dann seine Erzählung „Klingsors letzter Sommer“ entstanden.

Die ist seitdem in zahlreichen Buchausgaben erschienen, meist mit Illustrationen ihres Verfassers, der zwar erst als Vierzigjähriger im Rahmen einer psychoanalytischen Behandlung mit dem Malen begonnen hatte, wie Claus Lorenzen im Nachwort dieses Bandes schreibt, aber neben kleinformatigen Vignetten mehr als 3000 Aquarelle hinterließ. Der Verleger von „Officina Ludi“ verließ nun die eingefahrenen Wege und ließ das Werk künstlerisch durchgehend neu gestalten – nicht durch irgendwen, sondern durch Hermann Hesses Urenkelin. Die Schweizer Künstlerin Karin Widmer ist mit Skizzenblock und Aquarellkasten nicht nur durch jene Gegenden gewandert, die ihren Großvaters beeindruckten, sie hat auch die dunklen Seiten der Erzählung ins Bild gebracht.

Hesse schildere hier „die klassischen Merkmale einer manisch-depressiven Erkrankung“, schreibt Claus Lorenzen im Nachwort. Andere Interpretationen heben den Narzissmus, die egozentrische Selbstüberschätzung der Hauptgestalt hervor. Was einst grenzwertig erschien, ist es womöglich heute in einer „Gesellschaft der Singularitäten“ (Andreas Reckwitz) zur Norm geworden, zumindest in der kreativen Mittelschicht? Überraschend gegenwärtig mutet an, was der Maler Klingsor (benannt nach einer Zauberergestalt aus der mittelhochdeutschen Literatur, die auch in Novalis‘ „Heinrich von Ofterdingen“ und in Wagners „Parzival“ auftaucht) an Widersprüchen mit sich herumträgt. Poetisch dicht, in sanft fließenden Sätzen voller sprachlicher Kraft sind die Zweifel eines sensiblen schöpferischen Menschen beschrieben, ob seine künstlerischen Bemühungen Sinn machen angesichts persönlicher Vergänglichkeit. Die Sehnsucht nach etwas Allumfassenden: „Warum gab es Zeit? Warum immer nur dieses idiotische Nacheinander und kein brausendes, sättigendes Zugleich? … Und wie schön und peinigend und unbegreiflich war dies Gefühl in seiner Brust, diese Liebe und flackernde Gier nach jedem bunten Band und Fetzen des Lebens, dieser süße wilde Zwang zu schauen und zu gestalten und doch zugleich heimlich , unter dünnen Decken, das innige Wissen von der Kindlichkeit und Vergeblichkeit all seines Tuns!“

Alkohol und erotische Phantasien, die real werden wollen, Freunde immerhin, die den Maler verstehen, doch insgesamt schwebt über der südlichen Landschaft eine Krisenstimmung, die Gegenwart vorwegzunehmen scheint. Ein gemeinsames Mahl in der Nacht zum 1. August vor hundert Jahren: Tische unter Bäumen, ein Asiate dabei, der lächelnd all die Ängste des Künstlers Täuschungen nennt – und Klingsor spricht „von unsrem alten Europa, das zweitausend Jahre lang das Gehirn der Welt zu sein glaubte. Dies geht unter. Meinst du, Magier, ich kenne dich nicht? Du bist ein Bote aus dem Osten… Du bist hier, weil hier das Ende beginnt.“`

Oder neigt eine entgrenzte Ich-Gesellschaft dazu, das eigene Ende für das der Welt zu halten?

„Die Nachricht von Klingsors Tode erschreckt seine Freunde im Spätherbst“, heißt es zu Beginn der Erzählung, am Schluss hat der Maler noch ein Selbstporträt fertiggestellt, das er niemandem zeigt. Hesse selbst lebte noch weitere 43 Jahre und hat noch zwei Mal geheiratet. Mehrere Gedichtbände und ein umfangreiches Prosawerk mit „Steppenwolf“ (1927), „Narziß und Godmund“ (1930), „Die Morgenlandfahrt“ (1932), „Das Glasperlenespiel“ (1943) u.a. standen ihm bevor.

Hermann Hesse: Klingsors letzter Sommer. Illustriert von Karin Widmer. Officina Ludi. 104 S., in bedrucktes Leinen gebunden, 19,80 €.

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