Alles war vom Zufall bedroht
Menschen wie Rettungsringe: „Das Haus fernab des Meeres“ von Christoph Werner
Irmtraud Gutschke
„Wo warst du denn die ganze Zeit?“, fragt Rosa, als sie Paul Mäder nach längerer Zeit wiedertrifft. „Wieso hast du dich nie gemeldet?“ Soll er ihr etwa das Herz ausschütten bei dieser zufälligen Begegnung im Stadtpark? Soll er bekennen, dass er vor jenem Schrecken davongelaufen ist, von dem wir auf im Prolog des Romans erfahren haben? Beim Segeln auf der Müritz zusammen mit seinem Zwillingsbruder hatte eine Gewitterböe das Boot auf die Seite geschleudert und kentern lassen. Er hatte sich am Mast festgehalten, solange es ging, und dann versucht zu kämpfen. „Kein Laut, kein Gedanke an irgendjemanden oder -etwas, nur rasende Angst und der Wille zu überleben.“ Hätte er den Bruder retten können? Jonas war 17 gewesen und wollte Schriftsteller werden, hatte ein Textfragment hinterlassen, an das der Ich-Erzähler gern angeknüpft hätte. Aber in seiner rümpligen Dachgeschosswohnung will ihm das nicht gelingen. „Mein Stil war frei von Eitelkeiten“, heißt es auf Seite 81, „das gefiel mir, aber genau deshalb lag der ganze Fokus auf der Geschichte, und genau das war das Problem, denn alle meine Geschichten hatten kein Ende, kein Ziel, keine Architektur.“ Soll das seitens des Autors etwa selbstkritisch gemeint sein?
Christoph Werner, geboren 1964, war Intendant des Schauspielhauses Halle und leitet seit 26 Jahren das dortige Puppentheater. Nach einer Erzählung und einem Roman ist dies seine dritte Buchveröffentlichung, und sollte er je die Sorge gehabt haben, sie nicht zu einem erzählerischen Höhepunkt führen zu können, so gelang ihm auf den letzten Seiten ein geradezu furioses Finale. Von dem ruhigen, langsamen Erzählen zu Beginn möge man sich nicht täuschen lassen, denn es warten noch viele Geheimnisse auf ihre Enthüllung. So viele, dass einem fast der Kopf schwirren kann.
Auch als sie einander näherkommen, will Rosa nicht sagen, wer der Vater ihres Kindes ist. Und wer ist Hagen, in dessen Villa Rosa nicht nur wohnt, sondern als Bildhauerin auch ein Atelier hat? Ist er „der typische Kolonialist, der sich im Westen dumm und dämlich verdient hatte und jetzt den großen Gönner raushängen ließ“? Weshalb ist Rosa so verstört und bittet Paul, sie nie zu verlassen? Und was hat es mit dem „Haus fernab des Meeres“ auf der kleinen griechischen Insel Hydra auf sich, in das sich Paul von Hagen einladen lässt? Die Lebensgeschichten, die Christoph Werner in seinem Roman zusammenbringt, könnten im Nachhinein konstruiert erscheinen, halten einen aber beim Lesen auf spannende Weise fest. Deutsche Geschichte kommt ins Bild, das Ende des Zweiten Weltkrieges, der Kalte Krieg, die Zweistaatlichkeit, tragisches Fluchtgeschehen zu verschiedenen Zeiten, Unsicherheit, Angst und dann wieder glückliche Umstände. „Alles war vom Zufall bedroht“, heißt es auf Seite 119. Und damit ist genau benannt, was die Gestalten des Buches umtreibt. Sie können ihrer selbst und der Welt nicht sicher sein, weil sie schon einmal Schlimmes erlebt, nahe Menschen verloren haben.
„Er war ein Ertrinkender“, heißt es über Paul. Mit „Treibgut“ wird Hagen verglichen. Und Rosa zeigt sich nicht nur einmal verstört. Ihre kleine Tochter Marie aber ist ein Sonnenschein. Und Elena, die Haushälterin, ist eine weise, gute Seele. Ob Unglück nur Unglück hervorbringt, überlegt der Autor zusammen mit seinen Gestalten und widerspricht ihnen vehement. Menschen können einander „Rettungsringe“ sein. Und eine Traube von Luftballons fliegt in den südlichen Himmel.
Christoph Werner: Das Haus fernab des Meeres. Roman. Mitteldeutscher Verlag, 240 S., geb., 24 €.