Faszinierend, erstaunlich
Irmtraud Gutschke
Spannend wie ein Roman ist dieses Buch. Silvia Ferrara, Professorin für Ägäische Kulturen an der Universität Bologna nimmt uns mit zu den „Anfängen des Denkens“ und macht mit uns eine Reise in die Steinzeit, die früheste Epoche der Menschheitsgeschichte. „Südafrika, Indonesien, Iran, Türkei, Ägypten, Libyen. Jordanien, Italien Frankreich, Spanien, Australien, Irak, Hawaii, Inseln, Wüsten, Ozeane, Nationen und Regionen. In diesem Buch sind diese Namen nur willkürlich entstandene moderne Bezeichnungen für Gegebenheiten, die sich im früheren Verlauf der Menschheitsgeschichte völlig anders darstellten, als sie die heutigen Landkarten zeigen .. . Wir erkunden ein grenzenloses Pangaea, auf dem wir auf einige universelle allen Völkern und Kulturen gemeine Zutaten stoßen.“ Es ist ein Buch, das uns immer wieder staunen lässt. Der Umschlag zeigt die Höhlenmalereien in der Cueva de las Manos (Höhle der Hände) in Santa Cruz. Wie sind sie dort hingekommen und was wollen sie sagen? Was die Autorin fasziniert, ist die Kreativität unserer fernen Vorfahren, die manche als „primitiv“ abtun und sich dadurch selbst zu erhöhen trachten – und die wir wohl nie ganz verstehen. „Betrachten Sie es wie zahlreiche Fackeln, die über der Vergangenheit entzündet werden, viel Licht spenden, aber ihren Grund niemals ausleuchten können.“
Selbst von diesen Rätseln mitgerissen, versteht die Autorin, auch andere mitzureißen, allein schon durch ihre Sprache, die Enrico Heinemann ebenso mitreißend ins Deutsche gebracht hat. Und dann steigen wir auch schon in besagte Höhle hinab und beobachten einen Mann, der sich ein Ockerpigment über die Handfläche streicht, die er dann oben auf die Felswand drückt. Er muss hinaufklettern, was nicht einfach ist. Warum er das macht? Wir haben keine Hinweise darauf. Dabei gibt es solche Fingerabdrücke auch in anderen Höhlen. In der Henri-Cosquer-Höhle, die nur durch einen Tunnel 165 Meter unter der Meeresoberfläche zu erreichen ist sind Dutzende von Handnegativen erhalten. Das einigen Finger fehlen, ist von Bedeutung. Ob es wohl ein erster Schritt zur Entdeckung der Zahlen war?
Die Höhlen, die im Buch betrachtet werden, dienten nicht Wohnzwecken. Es sind „besondere, verschwiegene und erhabene Orte“. Waren es „Wände, um mit einer imaginierten Welt in Kontakt zu treten“? Und wozu die Tierzeichnungen? Wie stehen sie mit unserem eigenen Denken im Zusammenhang? Bei der Chauvet-Höhle im französischen Ardeche-Tal ist allein schon die Entdeckung interessant. Sie birgt über 450 Zeichnungen, die vor 36 000 Jahren entstanden sind. Berühmter noch ist die Höhle von Lascaux, wo außer den Tierdarstellungen auch abstrakte Zeichen auftauchen. Die junge Archäologin Genevieve von Petzinger hat solche Zeichen in 150 Höhlen auf der ganzen Welt untersucht und tatsächlich gemeinsame Muster entdeckt. Und weiter geht es nach Australien, die Sahara, Amerika, in die Türkei, nach Gaziantep. wo die Autorin am Flughafen die einzige allein reisende Frau ist und die ältesten Tempel der Welt besucht. Und wir sehen, wie Agatha Christie an der Seite ihres 14 Jahre jüngeren Ehemanns nach Syrien und den Irak reist, um ihn bei Ausgrabungen zu begleiten. Dann ein Sprung nach Malta, wo es die Legende von einer Riesin gibt, die die Ggantija-Tempel auf Gozo errichtet haben soll … Schließlich eine Frage für die Zukunft. Wenn jetzt an der Ostküste Finnlands ein Endlager für Atommüll entsteht, wie wird man es wohl in hunderttausend Jahren betrachten?
Was die Lektüre so anregend macht, sind nicht nur die Expeditionen in unbekannte Gegenden, die Mutmaßungen über eine ferne Vergangenheit, es ist auch die mitreißende Art der jungen Autorin, uns dabei an die Hand zu nehmen und auf ganz persönliche Weise mit uns zu reden. Beim „Eintritt ins Labyrinth der Vergangenheit mit all ihren Löchern und geheimen Winkeln müssen wir uns vor Trugschlüssen hüten“, sagt sie zu uns wie zu sich selbst, „auch in unserem manischen Bestreben, alles in eine Reihenfolge zu bringen. Die Geschichte beginnt nicht erst mit der Schrift. Sie setzt schon sehr viel früher an, in einer Ära, in der noch Unzivilisierte jagten, sammelten und Zeichnungen schufen, einer mit ‚paläo‘ bezeichneten Zeit, die unter die allgemeingültige Definition für Vorgeschichte fällt.“
Silvia Ferrara: Der Sprung. Eine Reise zu den Anfängen des Denkens in der Steinzeit. Aus dem Italienischen von Enrico Heinemann, C. H. Beck, 223 S., geb., 26 €.