Veränderte Kräfteverhältnisse
„China und der Westen“: Wolfram Elsner analysiert Aufstiege und Abstiege in der Geschichte
Irmtraud Gutschke
Spannend wie ein Krimi liest sich dieses Buch, was nicht nur an der zupackenden Sprache Wolfram Elsners liegt, sondern auch an seiner analytischen Präzision – und seiner Furchtlosigkeit, sich herrschenden Meinungen entgegenzustellen. Als Professor für Volkswirtschaftslehre an der Universität Bremen hatte er Lehraufträge nicht nur in den USA, Südafrika, Australien und Mexiko, sondern ist seit 2015 auch Gastprofessor an der Jilin Universität in Changchun, China. Er kennt also das Land aus eigener Anschauung und hat 2020 schon mit dem Band „Das chinesische Jahrhundert“ (Westend Verlag) Furore gemacht. Nach „Die Zeitenwende. China, USA und Europa ‚nach Corona‘“ erschien im Papyrossa Verlag mit „China und der Westen“ nun ein zweiter Band, der Auf- und Abstiegsszenarien in der Geschichte beleuchtet, also die ganze Welt in den Blick nimmt.
Was China betrifft: Vielen mag ja gar nicht bewusst sein, welche jahrtausendealten Wurzeln diese Zivilisation hat und wie sich daraus ein „Anderssein“ erklärt, das heute erstaunt und auch irritiert. Allein schon, dass die chinesischen Bauern nie Sklaven oder Leibeigene waren, immer wieder für ihre Interessen zu kämpfen verstanden, dass das Land keine Vernichtungskriege führte und mit seiner konfuzianischen Tradition Konflikte immer wieder austarieren kann, ist eine Besonderheit, die auch heute zum Tragen kommt. Anschaulich wird, wie China schon vor Tausenden von Jahren vor allem durch seine Handelswege zu einem prosperierenden Großstaat wurde, wie die Alte Seidenstraße damals Staaten im Sinne gegenseitigen Respekts verband.
Wie hingegen dem Westen der Aufstieg zu globaler Herrschaft gelang, liest sich umso interessanter, weil hier konkretes Geschichtswissen wieder hervorgeholt wird, das in der Schulzeit an manchen vorüberrauschte und dann unter anderen Informationen verschwand. Ursprüngliche Akkumulation im eigenen Land und Kolonialisierung möglichst vieler anderer Regionen, Konkurrenz der kapitalistischen Mächte, die zu Kriegen führte, welche die einen stärkten, die anderen schwächten. England, Frankreich, die Niederlande, Preußen, Japan – bis an die Gegenwart heran wird im Detail ein Konfliktfeld vorgeführt, das insbesondere auch China betraf, das gewaltsam westlichen Interessen untergeordnet werden sollte und sich erst im 20. Jahrhundert langsam davon erholte.
Interessant ist auch das Kapitel zur Sowjetunion, die in kürzester Zeit und mit großen Opfern den „vermutlich größten Aufholprozess des 20. Jahrhunderts“ schaffte und den alten Gegnern gegenüberstand. Achtungsvoll wird davon gesprochen, wie die UdSSR die Hauptlast des Krieges gegen Nazideutschland trug und nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs durch die Entwicklung einer eigenen Atombombe vermied, „sofort wieder in eine existenzielle Bedrohung, jetzt durch die USA und ihre Unterstützer, zu geraten“. Der erste Kalte Krieg war dann nicht nur ein Wirtschafts-, Finanz- und Ideologie-Krieg, „sondern auch ein Totrüstungs-Krieg“, in dem die Sowjetunion es mit den USA schließlich nicht mehr aufnehmen konnte. „Letztlich aber war ihr Sozialismusmodell, das auf reale Produktion, statt auf die Generierung von Finanz- und Kapitalüberschüssen für das Kaufen und Investieren in der Welt hin konstruiert war, rein finanziell unterlegen …“
Der Zerfall der Sowjetunion hat dann eine brutale „Schocktherapie“ des Neoliberalismus nach sich gezogen. Das Land erlitt einen „historisch außerordentlichen ökonomischen Absturz“ und eine humanitäre Katastrophe. „In dem Maße, in dem unter Putin die nationale Souveränität, territoriale Integrität und das nationale Selbstwertgefühl Russlands wiederhergestellt und die US-Konzerne wieder aus den russischen Ressourcen entfernt wurden, bleibt Putin in weitesten Kreisen Russland anerkannt und im Westen ein für alle Mal abgrundtief verhasst.“
Was die USA betrifft, so hatte ihr Aufstieg zur Weltherrschaft blutige Wurzeln in Kolonialisierung, Land- und Ressourcenraub und partiellem Genozid an den Ureinwohnern. „Von 244 Jahren ihrer Existenz (von 1720 bis 2020) waren die USA nur 16 Jahre nicht in einem Eroberungskrieg.“ Angegriffen wurden sie dabei niemals, sind aber in insgesamt 70 souveräne Länder eingefallen. Ihr wichtiger „Rohstoff“ bestand in der Einfuhr von Arbeitskräften, zunächst billigen Handarbeitern, dann aber einer Ingenieurs- und Technikerelite – nach dem Zweiten Weltkrieg aus Deutschland, später aus der Sowjetunion. Ein Brain-Drain der auch Zehntausenden chinesischer Wissenschaftler galt, die nun nach und nach wieder zurückwandern, weil das Leben in den USA nicht mehr so ist, wie es einst war. Denn mit dem „New Deal“ ist es vorbei. Die neoliberale Phase seit Mitte der 70er Jahre, so Wolfram Elsner, führt tendenziell „zu einem Stagnationsregime“, weil eine durch Verarmung begrenzte Konsumnachfrage eine „nicht-investive, sondern spekulative Verwendung der überschüssigen Gewinnmassen“ entstehen ließ. Und gegenwärtig, so sei hinzugefügt, soll eine Umverteilung zu Lasten Europas ein Ausweg sein. Der „US-amerikanische Rüstungsstaat“ sucht aus dem Ukraine-Konflikt, Kraft zu gewinnen.
Jeder der hier betrachteten Staaten hätte ein Buch für sich bekommen können, aber den Autor interessieren die Zusammenhänge nicht nur im politischen wie ökonomischem Sinne. Der Aufstieg durch „freien Wettbewerb“, so seine Schlussfolgerung, gelang Staaten nur so lange, wie „keine ernsthaften Konkurrenten existierten“ und „hinreichende natürliche Ressourcen“ (auch durch koloniale Ausbeutung) zur Verfügung standen. Wissensimport mochte zunächst lukrativ erscheinen, hat aber eine Kehrseite: Dass Wissen im Finanzkapitalismus nicht geteilt, sondern weggeschlossen wird, ist gesamtwirtschaftlich gesehen kontraproduktiv. Dagegen ist China in Bezug auf technologisches Wissen ein einziges großes Experimentierfeld.
China war in einem „Jahrhundert der Schande und der Demütigung“ durch europäische, US-amerikanische und japanische koloniale Ausplünderung zu einem der ärmsten Entwicklungsländer der Welt degradiert. 35 Millionen Tote im 2. Weltkrieg. Immer wieder hing die Entwicklung eines eigenständigen Staates an einem seidenen Faden. Ein Land mit 90 Ethnien hätte in Dutzende Warlord-Gebiete und Kleinreiche zerfallen können. Zudem war es in der Vergangenheit auf Grund von Dürren und Überschwemmungen immer wieder von Hungersnöten bedroht. Allein, dass es der Kommunistischen Partei innerhalb von 40 Jahren gelang, rund 800 Millionen Menschen aus der Armut herauszuholen, ist eine Leistung, die Hochachtung verdient.
Aber wie kann man der „Falle des mittleren Einkommens“ entgehen? Dieser Begriff betrifft zahlreiche Entwicklungsländer, die durch ein starkes Wirtschaftswachstum schnell ein mittleres Einkommen mit entsprechendem Konsumverhalten erreicht haben, darin aber steckengeblieben sind. Sie können die Produktivitätsentwicklung nicht mehr hinreichend pflegen, wenn die Vorteile billiger Arbeitskräfte schwinden. Die Exporte bleiben zurück, während die Abhängigkeit von Importen aus den führenden kapitalistischen Ländern wächst. Das hohe durchschnittliche Einkommensniveau führt zu Verteilungskämpfen und Umverteilungsprozessen nach oben. Grob gesagt: Eine Oligarchie steckt sich alles in die Tasche und vernachlässigt die Industrie.
Nur durch einen starken Staat, so lässt die Lektüre deutlich werden, ist dieser Falle zu entkommen. Wie China unter kommunistischem Vorzeichen die Gewinne privater Firmen in die Investitions- und Infrastrukturentwicklung zwingt, muss in einem System „freien Räubertums“, wie es Wolfram Elsner nennt, als Skandal erscheinen. Es ist ja immer wieder ein Vergnügen beim Lesen, wie er sein polemisches Talent zum Tragen bringt, ohne die rationale Analyse zu kurz kommen zu lassen. Den Namen „freie Marktwirtschaft“ verdient die „neoliberale Umverteilungsmaschine“ aus seiner Sicht längst nicht mehr, in der wenige hundert Personen, die wechselseitig in Vorständen und Aufsichtsräten der größten Unternehmen sitzen, die Welt zu beherrschen trachten.
Wobei es als Kunststück erscheinen muss, wie die Märkte in China „zum Dienen gezwungen“ werden, ohne ihre Attraktivität für privates Kapital zu verlieren. Die Reichen unterliegen einer Rechenschaftspflicht, und gleichzeitig öffnet der Staat insbesondere auch durch seine Banken Freiräume für Millionen Gründer und kleinere und mittlere Unternehmen. Für diesen Balanceakt spielen die gemeinschaftlich-moralischen Kulturtraditionen in China eine Rolle, wo sich daoistisches, buddhistisches und vor allem konfuzianisches Gedankengut mit heutigem marxistischem kommunitaristischem Selbstverständnis verbindet. Dass China nicht den gleichen Weg wie der Westen geht und auch keine Hegemonie in der Welt anstrebt, wird von Wolfram Elsner betont. Aber durch wachsende Wirtschaftskraft – Chinas Anteil am Weltsozialprodukt nähert sich einer 20-Prozent-Marke – wird das Land zum Konkurrenten. Manche sagen schon einen Krieg mit den USA voraus, der sich an Taiwan entzünden könnte. China aber hat nicht so viele Mittel in die Rüstung gesteckt wie die USA, die Rüstungsstruktur war zunächst defensiv angelegt. Was würde es für die chinesische Wirtschaft bedeuten, dies unter dem Druck der Verhältnisse zu ändern? Welche Rolle spielt dabei das Verhältnis zu Russland? Klare Ansage aus dem chinesischen Außenministerium: „Die USA sind diejenigen, die die Ukraine-Krise ausgelöst haben.“ Aber war diese Krise für China nicht zugleich Warnung und Zeitgewinn?
Das Thema Ukraine, so Wolfram Elsner, würde in einem folgenden Band eine Rolle spielen. Wie Westeuropa, wie Deutschland im Interesse der USA in diesen Krieg gegen Russland hineingezogen werden, könnte durchaus eine China-Parallele haben. Die wirtschaftlichen Folgen der Sanktionen gegen Russland für die deutsche Industrie und Bevölkerung sind enorm. Unter transatlantischem Druck würde Deutschland „seine Freiheit des Geschäftemachens mit China wohl einbüßen“, warnt Elsner. „Die deutschen Unternehmen und die europäische Wirtschaft insgesamt sind nun aufgrund abenteuerlichster Sanktions- und energiepolitischer Amokläufe unter Abstiegsdruck gesetzt. Ein neuer Eiserner Vorhang ist errichtet, die Weltwirtschaft steht am Abgrund einer Entkoppelung und Desintegration. Die USA hoffen, die Gewinner zu sein.“
Die Frage ist nicht nur, ob sich die deutsche Industrie das auf Dauer gefallen lassen muss, sondern vor allem, ob die deutsche Bevölkerung so masochistisch gegenüber den Machthabern in den USA ist, sich an den Rand eines Atomkriegs in Europa drängen zu lassen.
Wolfram Elsner: China und der Westen. Aufstiege und Abstiege. Vom alten Reich der Mitte zum gegenwärtigen Konflikt. PapyRossa Verlag, 272 S., br., 22 €.