Willkommen in meinem Literatursalon
Irmtraud_Gutschke

Lesen macht glücklich, weil es uns sagt, wer wir sind und wer wir sein wollen, weil wir über uns hinauswachsen, in fremder Haut erleben dürfen, was uns sonst verschlossen bliebe. Heutzutage scheinen wir ja in Informationen zu ertrinken und haben doch das Gefühl, dass uns Wichtiges fehlt. Was ich suche, sind Bücher, die in diesem Sinne nachdenklich machen, ja auch solche, von denen ein Leuchten ausgeht. Viele Jahrzehnte habe ich als Literaturredakteurin mit Hunderten, ja Tausenden von Texten zu tun gehabt, auch selber Bücher geschrieben. Die Neugier auf Neues will ich hier mit anderen teilen.

„literatursalon.online“: Stellen Sie sich vor, wir sind zusammen in einem schönen Saal, und Sie möchten von mir wissen, was sich zu lesen lohnt. Was interessiert Sie denn, frage ich zurück. Politische Sachbücher? Gute Romane und Erzählungen? Spannende Krimis? Bildbände, die man immer wieder betrachten möchte? Mit meiner Auswahl lade ich Sie zu Ihren eigenen Entdeckungen ein.

Irmtraud Gutschke

Wenn Sie mehr über mich erfahren wollen - meine Biografie, meine Bücher und Veranstaltungen - , schauen Sie auf meine Webseite www.irmtraud-gutschke.de

Das Verschwinden der Amanda Kent

Das verräterische Wort

„Das Verschwinden der Amanda Kent“ von Oliver Schlick

Irmtraud Gutschke

Wenn eine Zwölfjährige die Geschichte erzählt, ist an Leserinnen und Leser in eben diesem Alter gedacht. Auch etwas jüngere vielleicht, schon Kindern ab zehn könnte das Buch gefallen, meint der Verlag. Aber wer den Band für Kinder oder Enkel zum Geburtstag oder für Weihnachten kauft, sollte das so rechtzeitig tun, um ihn selber noch genießen zu können. Vergnügen garantiert. Allein schon, weil der Detektiv Rory Shy von ganz anderer Art ist als die meisten Ermittler, die wir so aus dem Fernsehen kennen. Es wäre ihm schlichtweg peinlich, eine Pistole bei sich zu tragen, und schmerzlich unmöglich, sie gar auf einen Menschen zu richten. Nicht mal ein Verhör vermag er zu führen. Allein schon dafür braucht er die aufgeweckte Matilda, für die Kriminalfälle das größte Vergnügen sind.

Wie ein Schulkind zur Ermittlerin werden kann, dürfte man fragen. Nun, sie nutzt die Ferien dafür. Sie hat insofern freie Hand, weil ihre Eltern als Tierfilmer in der Welt herumreisen und die Haushälterin Frau Zeigler jeder Ausrede glaubt. Und dann gibt es auch noch einen Cockerspaniel namens Doktor Herkenrath, der auch einen besonderer Charakter hat: Er ängstigt sich nämlich vor kleinen Tieren mehr als vor großen, kann einen Hundetanz aufführen, und im Auto wird ihm häufig schlecht. Er ist also keine rechte Hilfe in der Detektivarbeit. Oder doch?

Eigentlich wollte Rory Shy den schönen Herbst für einen Ausflug mit Charlotte Sprudel nutzen. Die kennt man schon seit dem ersten Band der Reihe. Mit ihr will er 150 Kilometer auf dem „Rotwerd-Pfad“ wandern, so genannt „nach einem Dichter der Romantik. Bekannt für seine schüchternen Balladen… Man erzählt, dass er in eine junge Frau verliebt war, die ein paar Kilometer weiter in einem Nachbardorf lebte. Er wollte um ihre Hand anhalten. Aber weil er schüchtern war, brauchte er noch Zeit, um genug Mut für seinen Antrag zu fassen. Deshalb ist er nicht auf direktem Weg zu ihr gegangen, sondern hat einen Umweg von hundertfünfzig Kilometern gemacht.“

Das ist ganz nach dem Geschmack von Rory und Charlotte. Denn auch Charlotte hat Schwierigkeiten mit allzu großer Nähe, ist „scheu“, was man einer Millionenerbin nicht zutrauen würde. Man würde ihnen wohl wünschen, dass sie einander auf der Wanderung  noch ein Stück näher kommen könnten. Schöne Vorstellung, doch es wird nichts daraus. Das Telefon klingelt: Die populäre Krimiautorin Amanda Kent wird vermisst.

Sie war im Landhaus ihres Verlegers zu Gast gewesen, der, unvermutet für sie, noch fünf weitere Personen zum Abendessen eingeladen hatte. Danach war sie in ihr Zimmer gegangen, das man am Morgen verwüstet vorfand. Von ihr selbst fehlte jede Spur. Kommissar Valko meint, dass ihr Verschwinden nur Reklame  zugunsten ihres neuen Buches ist. Seelenruhig würde sie sich in einem Hotel aufhalten und den Rummel um ihre Person genießen. Aber Rory Shy befragt nun die Gäste, sucht nach Spuren, stellt Mutmaßungen an und kann den Fall am Schluss lösen. Was wir nicht anders erwartet hatten. Aber wie er das macht, sorgt natürlich noch für eine Überraschung.

Vorab sei gesagt: Es hat keinen Mord gegeben. Wir werden überhaupt von Gewaltszenen verschont. Allerdings, so ganz auch wieder nicht, wenn man sich vorstellt …  Dabei ist alles plausibel und perfekt nach den Regeln des klassischen englischen Detektivromans gebaut, der seinen Reiz daraus bezieht, dass man bei Lesen den Detektiv begleitet und bei seinen Ermittlungen mitraten kann. Aber das soll auch kein nur intellektuelles Rätselspiel sein. Oliver Schlick versteht es, atmosphärisch dichte Bilder und immer wieder skurrile Szenen auszumalen, über die man sich köstlich amüsieren kann.

In Rory Shy und Amanda finden wir das bewährte Muster Sherlock Holmes und Watson wieder, wobei der schüchterne Detektiv auch etwas von Sherlock aus der gleichnamigen Fernsehserie hat. Wie er sich in Gestalt von Benedict Cumberbatch bisweilen in seinen „Gedankenpalast“ zurückzieht, hat auch Rory seine besonderen Fähigkeiten. Durch Berührung merkt er Gegenständen an, ob sie in ein Verbrechen verwickelt waren. Den in einem Gebüsch gefundenen Kugelschreiber muss er allerdings anlecken,  um die Verbindung zu Amanda Kent zu entdecken.

Für erwachsene Leser ein besonderer Genuss sind die vielen literarischen Anspielungen im Roman. Schon beim Titel habe ich sofort an Agatha Christie gedacht. Dass sie am 3. Dezember 1926  für Tage verschwand (sie hat sich, wie es sich erwies, tatsächlich in einem Hotel aufgehalten, Inspector Valko zieht da zu Amanda Kent nur eine Parallele) führte in England zu einer spektakulären Suchaktion und hatte später einen Film und mehrere Krimis zur Folge – zuletzt „Agathas Alibi“ von Andrew Wilson und „Mrs. Agatha Christie“ von Marie Benedict.

Zudem könnte Amanda Kent in der populären US-amerikanischen Autorin Amanda Cross eine Namensschwester haben. Die hat für ihre Krimis eine Ermittlerin erfunden, die eigentlich Unidozentin ist, Spezialistin für das Viktorianische Zeitalter, dessen Fesseln sie als Frauenrechtlerin zugleich sprengen möchte. Wenn Amanda Kent im Roman durch eine Buchserie um den grummeligen „Inspector Joyce“ berühmt geworden ist, wer hat da nicht die Filmreihe um Inspector Barnaby vor Augen, in der ich zugegebenermaßen mitunter die Übersicht verlor angesichts der vielen Personen, deren Namen ich mir nicht merkte. Das kann in diesem Band allein schon deshalb nicht geschehen, weil man die wichtigsten Mitwirkenden auf dem Vorsatzpapier abgebildet findet. Überhaupt ist das Buch seitens des Verlages gut aufgemacht.

Nach Carolin Graham haben mehrere Drehbuchautoren an der Serie „Inspector Barnaby“ mitgearbeitet, unter anderem Anthony Horowitz, der ein großer Fan des klassischen britischen Detektivromans ist und in mehreren Büchern Sherlock Holmes in den Mittelpunkt stellte. Aber damit schließt sich der Kreis noch lange nicht. Wie sich Rory Shy an der Tür noch einmal umdreht, meine ich Inspektor Columbo zu erkennen. Mit Olivia Paddington im Roman, die eigentlich Buttergrieß heißt und ständig nießen muss, werden die beliebten Katzenkrimis auf die Schippe genommen und mit Lars Blodstroem, der ebenfalls beim Verleger zu Gast war, die harte nordische Krimivariante, in der immer Blut fließen muss. „Tatsächlich habe ich nur den ersten Band der Norwedder-Trilogie gelesen“, so Matildas Kommentar. „Die Handlung in Lars Blodstroems Büchern ist an den Haaren herbeigezogen und so unlogisch, dass man Gefahr läuft, einen Hirnkrampf zu kriegen, wenn man genauer darüber nachdenkt.“ Auf Seite 139 versucht sie mit dem arroganten Autor eine Auseinandersetzung, bekommt aber zu hören, dass seine Heldin Liv Norwedder eben alles auf ihre Weise regelt. „Schnell, knallhart, entschlossen.“ Kennen wir nicht solche Kriminalistinnen aus dem Fernsehen?

Für mich war es ein besonderer Genuss, wie Oliver Schlick hier unterschwellig-treffsicher das Genre des Kriminalromans auseinandernimmt – mit deutlicher Vorliebe für die klassische Variante, in der genaue Menschenbeobachtungen das A und O sind. Letztlich dadurch kommt auch Rory Shy zur unerwarteten Lösung des Falls. Lediglich ein häufig gebrauchtes Wort bringt ihn auf die Spur. Mehr soll hier nicht verraten sein.

Und noch etwas: Wer schüchtern ist oder sich sonstwie unzulänglich fühlt, wird vom Autor, der lange als Sozialarbeiter in der Jugendhilfe gearbeitet hat, lächelnd in den Arm genommen. Rory Shy führt es einem ja vor Augen: Was vielleicht wie ein Defizit erscheinen mag in dieser hektischen Welt, wo Durchsetzungskraft gefragt ist, kann auf andere Weise ein Vorzug sein. Und Leute, die sich ein besonders selbstbewusstes Image geben, haben wahrscheinlich auch eine Schwäche, die sie bloß nicht zugeben können, wie es sich in diesem wunderbaren Roman zeigt. Insofern ist Rory Shy doch ein starker Charakter. Davon wird man sich garantiert wieder überzeugen können, wenn im Frühjahr  2023 der fünfte Band der Krimireihe erscheint.

Oliver Schlick: Rory Shy, der schüchterne Detektiv. Das Verschwinden der Amanda Kent. Ueberreuter Verlag, 294 S., geb., 16 €.

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