Willkommen in meinem Literatursalon
Irmtraud_Gutschke

Lesen macht glücklich, weil es uns sagt, wer wir sind und wer wir sein wollen, weil wir über uns hinauswachsen, in fremder Haut erleben dürfen, was uns sonst verschlossen bliebe. Heutzutage scheinen wir ja in Informationen zu ertrinken und haben doch das Gefühl, dass uns Wichtiges fehlt. Was ich suche, sind Bücher, die in diesem Sinne nachdenklich machen, ja auch solche, von denen ein Leuchten ausgeht. Viele Jahrzehnte habe ich als Literaturredakteurin mit Hunderten, ja Tausenden von Texten zu tun gehabt, auch selber Bücher geschrieben. Die Neugier auf Neues will ich hier mit anderen teilen.

„literatursalon.online“: Stellen Sie sich vor, wir sind zusammen in einem schönen Saal, und Sie möchten von mir wissen, was sich zu lesen lohnt. Was interessiert Sie denn, frage ich zurück. Politische Sachbücher? Gute Romane und Erzählungen? Spannende Krimis? Bildbände, die man immer wieder betrachten möchte? Mit meiner Auswahl lade ich Sie zu Ihren eigenen Entdeckungen ein.

Irmtraud Gutschke

Wenn Sie mehr über mich erfahren wollen - meine Biografie, meine Bücher und Veranstaltungen - , schauen Sie auf meine Webseite www.irmtraud-gutschke.de

Zwischen Welten

Die Spaltung ist doch offensichtlich

Juli Zeh und Simon Urban nehmen den Verband von einer Wunde – und werden dafür gescholten

Irmtraud Gutschke

Ob dieses Buch ein „politisches Ärgernis“ sei, „wie viele glauben – oder ein literarisches“, wurde jüngst in der ZEIT gefragt. Gleich im ersten Satz ihren Rezension gibt Katharina Teutsch die Antwort: „Diesen nur notdürftig als Roman verkleideten gesellschaftstheoretischen Stammtisch samt Katerfrühstück, diesen kreativ verarmten WhatsApp-Dialog“ schafft man „nur weil das, worüber Juli Zeh in ihren Romanen und Essays, in ihren meistens umstrittenen publizistischen Interventionen seit Jahren schreibt, wie eine Zeitungsglosse perlt: Stadt-Land-Konflikt, Ost-West-Konflikt, Populismus, rechte Gewalt, liberales Larifari,  Klima-Aktivismus und digitale Diskursversteppung. Da bleibt man dran.“ Es ist offensichtlich: Weniger gegen ihren Mitautor Simon Urban als gegen sie richtet sich der Angriff. Dass „Deutschlands erfolgreichste Autorin“ in Ungnade gefallen ist, weil sie zu den 28 Erstunterzeichnern eines von der Zeitschrift Emma am 29. April 2022 veröffentlichten Offenen Briefs an Bundeskanzler Scholz gehörte, nicht noch mehr schwere Waffen an die Ukraine zu liefern, wird nicht erwähnt, aber wer über sie schreibt, hat es im Hinterkopf. Und DIE ZEIT, jeglicher Diversität aufgeschlossen, duldet beim Ukraine-Thema keine Abweichung von der „Linie“.

Das Blatt ist überhaupt dabei, mit einem liberalen „Woke“-Aktivismus auf neue Zielgruppen zuzugehen, während man sich der alten sicher glaubt. Das ist nichts Besonderes in dieser von Auflagenverlusten geplagten Medienlandschaft, die ganz so bunt schon nicht mehr ist, sondern in Vielem ziemlich einhellig. Weil sie sich mit all dem auseinandersetzen, haben Juli Zeh und Simon Urban wissen müssen, dass ihnen gerade aus den Redaktionen Gegenwind ziemlich unangenehm ins Gesicht schlagen wird. Getreu dem Sprichwort „Getroffene Hunde bellen“, könnten sie das sogar für  als Erfolg für sich verbuchen. Das Interview in der NZZ, dass Juli Zeh am 21. Januar gab, wurde sorgsam darauf abgeklopft, was man alles der Autorin unterstellen könnte. Ob sie Rassismus und Rechtsradikalismus unterschätzt oder einen privilegierten Individualismus zelebriert, da kann sie froh sein, dass  nur ihre Äußerungen als „umstritten“ bezeichnet werden und nicht schon ihre ganze Person.

Wenn literarische Werke eine Gesellschaftsdiagnose wagen, die konträr zur herrschenden Meinung ist, sagt man ihnen gern künstlerische Mängel nach. Das ist so in der DDR gewesen, in der BRD war es bislang weniger verbreitet. Aber die Konturen werden schärfer. Vielfach zitiert wird im Zusammenhang mit dem Roman der Soziologe Oliver Nachtwey, dass in Deutschland ein neues politisches Lager entstehen würde, „das quer zur traditionellen Rechten und zum Konservativismus steht: Anti-Woke, Corona-Skeptisch, Angst vor kultureller Überfremdung und für ‚Diplomatie‘ im Ukraine-Krieg. Dieses Lager ist nicht homogen, aber teilt aus meiner Sicht diese vier Merkmale und positioniert sich vor allem als Kulturkampf gegen alle Formen des (Links-)Liberalismus.“ Klarer hätte man es nicht auf den Punkt bringen können: Die Spaltung in unserer Gesellschaft ist offensichtlich und wird in der gegenwärtigen Krise nur noch tiefer. Wobei zu hinterfragen wäre, ob der genannte Liberalismus wirklich „links“ ist oder sich bloß so tarnt, um linke Kräfte zu binden.

Insofern kommt es Juli Zeh zugute, dass sie hier wie auch in ihren Romanen „Unterleuten“ und „Über Menschen“ aus eigenen Erfahrungen schöpfen kann. Bekanntlich lebt sie seit 2007 in einem Dorf im Havelland. Theresa im Buch ist Ökobäuerin in Brandenburg, Stefan, mit dem sie im WhatsApp-Kontakt steht, leitender Redakteur beim BOTEN, einer großen Hamburger Wochenzeitung. Da wird man sich in der „ZEIT“ Gedanken gemacht haben, wie man die Kritik an diesem Buch möglichst so formuliert, dass eigenes Getroffensein verschleiert wird. Weil eben alles stimmt, wie hier angemerkt, angefangen mit der „Aktivismus-Beilage“, die Pluspunkte bei einer jungen Leserschaft bringen soll. Wobei man sich fragen muss, ob junge Leser überhaupt eine Zeitung abonnieren. Wenn ich sage, DIE ZEIT geht an mir vorbei (immerhin einen Monat lang habe ich sie mir zu Gemüte geführt), könnte eine spöttische Gegenfrage lauten, ob die Zeit nicht überhaupt an mir vorbei gehen würde. Wenn man älter wird, wird ja Kritisches gern mit dem Argument abgewehrt, dass die Jüngeren die Welt eben anders sehen, dass dies immer schon so war und man diesbezüglich toleranter sein müsse. Tolerant gegenüber Intoleranz?

„Die jungen Journalist*innen von heute sind auf andre Weise selbstbewusst, als wir es damals waren. Sie begreifen sich als Avantgarde, und das bezieht sich nicht nur auf ihre Arbeit, sondern auch auf den Grad ihrer politischen Aufklärung.“ Da gibt Stefan im Buch eine genaue Diagnose dessen, was früher wie heute eine Krise der Medien charakterisiert, wenn Agitation und Propaganda überhand nehmen. Was in diesem Falle nicht „von oben“ verordnet zu werden braucht, sondern in einem stark konkurrierenden Milieu vom Ich gelebt werden muss, um voranzukommen. Was Stefan ja will. Dass Theresa sich dagegen Distanz leisten kann, mag von jenen bemängelt werden, die drin sind in dieser „Mühle“ und das mit der Realität verwechseln.

Der Kunstgriff im Roman „funktioniert“ ja nur durch die durchaus plausibel geschilderte Ausnahmesituation, dass zwei befreundete Kommilitonen später in ganz unterschiedlichen Milieus angekommen sind. Dass man ihre Kommunikation als Ausnahme begreift, gehört mit zur Wirkung des Romans. „Bei mir im Dorf sind viele total verzweifelt. Sie haben keine Ahnung, wie es weitergehen soll. Eines Tages verwandelt sich die Verzweiflung in Wut …“ Wie Theresas Vorhersage sich erfüllt, ist im Roman schon zu erleben. Und fast gleichzeitig mit der Demo vor dem Landwirtschaftsministerium wird „DER BOTE“ in „DIE BOT*IN“ umbenannt. Der Kontakt zwischen Stefan und Theresa bricht ab. Wie hätte man diesen Roman auch enden lassen sollen, der den Verband von einer Wunde zieht, ohne zu wissen, wie man sie heilen könnte.

 Juli Zeh, Simon Urban: Zwischen Welten. Roman. Luchterhand, 444 S., geb., 24 €.   

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