Sehnsucht nach der Milchstraße
Johan Eklöf zeigt auf, „wie künstliches Licht die uralten Rhythmen unserer Umwelt zerstört“
Irmtraud Gutschke
Wenn es draußen erst spät hell und früh dunkel wird, wie sehnt man sich nach Licht! Ein Grund, dass es in der Weihnachtszeit überall glitzerte und funkelte, und man zu Silvester mit viele Feuerwerk das neue Jahr begrüße. Da musste ich aber auch an die Eichhörnchen im Garten denken und den Fuchs, der hier irgendwo wohnt. Für die ist es doch wie Weltuntergang. Oder haben sie sich schon daran gewöhnt? Wahrscheinlich ebenso wenig wie die Hunde. Für sie kennt die Tiermedizin sogar das Wort „Silvester-Angst“ und hat sogar ein Medikament dafür: Sileo mit dem Wirkstoff Dexmedetomidin, der auch für Narkosen eingesetzt wird. Auch Katzen mögen kein Feuerwerk. Aber was schert es uns Menschen denn, was Tiere mögen?
Wir sind so auf uns selber, auf unsere Bedürfnisse fixiert, dass wir alles andere aus den Augen verlieren, obwohl wir es besser wissen müssten. Da hat mich das Buch „Das Verschwinden der Nacht“ von Johan Eklöf fasziniert. Ich sitze unter einer Lampe; anders könnte ich ja nicht lesen, und er nimmt mich auf eine Nachtwanderung mit. Freilich hat er eine Taschenlampe dabei. Deren Lichtkegel erfasst gleich zu Beginn des Buches „einen schwarzen Dämon mit Schlangenschwanz und Fledermausflügeln. Das Wesen sieht aus, als würde es sich mit ausgebreiteten Schwingen nach hinten werfen, und aus seinem Maul erstrahlt ein Lichtschein, als hätte es versucht, das Licht selbst zu verschlingen …“ – Auf dem Bild von Christoffer Weisstern (1744-1792) in der Kirche von Mossebo liegt „dieses Wesen der Finsternis“ im Sterben, als Begleiter des Teufels, als „Gegensatz des göttlichen Lichts“. „Umso ironischer“, so Johan Eklöf, „dass ausgerechnet Kirchen so oft zu Wohnplätzen von Fledermäusen wurden“. Und so steigen wir mit ihm im Dunkeln die Treppe hinauf, schlüpfen durch eine kleine Tür auf den Dachboden, laufen über Kot und Mottenflügel, „ein deutliches Zeichen, dass hier Fledermäuse leben“, können sie aber nirgends entdecken. Erst später, beobachten wir vom Friedhof aus, wie sie sich kopfüber vom Kirchendach stürzen …
Als „einer der profiliertesten schwedischen Fledermausexperten“ wird Eklöf im Klappentext vorgestellt. Einer also, der des Nachts unterwegs sein muss, wenn wir in unseren Betten liegen. Wie spannend, von ihm mitgenommen zu werden – auf Friedhöfe, zu einsamen Gewässern, in Wälder und Wüsten, auf jedes Rascheln zu lauschen und zum Sternenhimmel aufzublicken. Das ist es, was die Lektüre so mitreißend macht: die Verbindung von Erlebnis und Erkenntnis. Was des Autors Anliegen ist, sagt ja schon der Titel: „Das Verschwinden der Nacht. Wie künstliches Licht die uralten Rhythmen unserer Umwelt zerstört“. Doch dies ist kein trockenes Sachbuch. Wie uns der Autor unterhaltsam erzählend auf seine Gedankenwege lockt, ist zum eindrücklichen Kunststück geworden.
Was man nicht alles erfährt: über die Fledermäuse, die sich nur im Dunkeln paaren können, und über Insekten, von denen die Hälfte aller Arten nachtaktiv ist, die sich nach Mond und Sternen orientieren und durch künstliches Licht geradezu hypnotisiert werden. Das ist einer der Gründe, dass sich die Biomasse der Insekten um 75 Prozent verringert hat. Auch was die mehr als 6000 Säugetierarten betrifft: In ihrer Mehrheit ziehen sie die Stunden der Dämmerung oder die Nacht vor. Interessant, was sie für ein spezifisches Sehvermögen im Vergleich zu dem unsrigen haben, damit sie sich im Schutz der Dunkelheit bewegen können. Künstliches Licht aber setzt Instinkte außer Kraft. Frisch geschlüpfte Schildkröten laufen zur Stadt, statt zum Meer. Vogelschwärme, die nach den Sternen navigieren, kommen von ihrer Bahn ab. Dass es 1500 Fischarten gibt, die in der Tiefsee leuchten können, wusste ich noch nicht. Ein Riesentintenfisch hat Augen von 27 cm Durchmesser. Touristen erfreuen sich an Korallenriffen, die gerade deshalb vom Aussterben bedroht sind. Beleuchtete Hotels, beleuchtete Strandpromenaden, Lichtkegel, die übers Wasser gleiten –, nicht nur die Clownfische werden an der Fortpflanzung gehindert.
Veränderungen der natürlichen Lichtverhältnisse beeinflussen das gesamte Ökosystem und mit den Pflanzen und Tieren auch die Menschen. Einfach nur durch die Straßenbeleuchtung, stärker noch durch das blaue Licht aus Fernseher oder Computer wird bei uns die natürliche Melatoninproduktion gehemmt, was eine Ursache von Schlafstörungen ist.
In der Allerheiligenkirche auf der Insel Ven hat Eklöf ein Museum für den Renaissancegelehrten Tycho Brahe besucht, der 77 Sterne benannte, die er mit bloßen Augen beobachtet hatte. „Aber der Nachthimmel ist nicht mehr derselbe wie Ende des 19. Jahrhunderts … Die Lichtverschmutzung am Himmel löscht ganze Galaxien und entlegene Sonnensysteme aus, als hätte jemand mit einem schmutzigen Lappen das Fenster zum Universum verschmiert.“
Gewinn und Verlust – anhand vieler Einzelheiten kommt einem hier der Zusammenhang vor Augen. Wie seinem Urgroßvater, der Spinnmeister war, das elektrische Licht zugutekam, kann der Autor gut verstehen. Damals galt es fast schon als Verheißung einer lichten Zukunft: „Die wenigsten dachten darüber nach, dass Licht auch Schaden anrichten könnte.“ Dass wir alles übertreiben müssen, dass wir kein Maß kennen, ist das Problem. Lesend begreifen wir, wie Energieverschwendung, Konsumterror und ökologischer Verfall zusammenhängen.
Angesichts von Lichtverschmutzung in den Städten hat sich sogar schon ein „Dunkeltourismus“ entwickelt. Da fliegen manche Leute extra in die Nationalparks der USA, nach Nordskandinavien oder Bolivien in die größte Salzwüste der Erde, nur um einmal die Milchstraße in ihrer Pracht zu sehen. Die chilenische Atacama-Wüste zählt zu den dunkelsten Orten der Erde, sodass es kein Zufall war, dass dort eine Konferenz zum Thema Lichtverschmutzung stattfand. Eklöf war dabei und schwärmt von dem Sternenhimmel, der sich ihm da auftat. „Nirgendwo fühlt man sich so klein, so bedeutungslos und zugleich so einzigartig wie dort. Die am nächsten gelegenen Sterne scheinen förmlich auf uns herabzustürzen und bilden eine gemusterte Kulisse hinter den Andengipfeln. Und die am fernsten gelegenen Sterne weisen uns den Weg bis zum Anbeginn der Zeit, wie Leuchtfeuer an einer fernen Küste, weit draußen im Pazifik … All diese Sterne könnten theoretisch auch anderswo beobachtet werden, aber der Mensch hat eine diffuse Lichtbarriere errichtet, die wie eine undurchsichtige Kuppel über unserer Welt liegt… Die meisten von uns sehen nur noch ein halbes Prozent der Sterne, die eigentlich mit bloßem Auge erkennbar wären.“
Gern erinnert sich Eklöf an nächtliche Angeltouren mit seinem Großvater. Damals war der See voll von Aalen. Der Großvater hatte extra einen Räucherofen gebaut. Aale aber zeigen sich nie bei Tageslicht, gelten gemeinhin als geheimnisvolle Wesen der Dunkelheit. Wie schön das im Buch beschrieben ist: Die Angeltouren mit dem Großvater waren „langsame, methodische und fast zeremonielle Unternehmungen. Es ging gar nicht so sehr um die Jagd auf Aale oder noch lieber Zander. Ähnlich wie bei der Beobachtung von Sternschnuppen ging es eher um das Wissen, dass da draußen in der Dunkelheit etwas existiert, über das man mehr erfahren möchte, etwas, worüber man staunen kann.“
Das letzte Kapitel seines Buches hat der Autor während der „Earth Hour“ bei Kerzenschein geschrieben. Bei dieser weltweiten Klima- und Umweltschutzaktion wird für eine Stunde auf öffentliche Beleuchtung verzichtet. Das ist spektakulär, damit kann man Werbung machen, dachte ich beim Lesen. Aber was nutzt es auf Dauer? Muss es denn so radikal geschehen? Könnte man die weißen Scheinwerfer der Autos nicht anders einstellen und überhaupt die blendenden Lichter auf den Straßen ein wenig dimmen? Wenigstens die flackernden Leuchtreklamen sollten abgeschaltet werden. Die Notwendigkeit, Energie zu sparen, so überlegt man, könnte auch gute Seiten haben. Für die Umwelt und für uns, wenn wir die Sterne wieder aufleuchten sehen. Denn: „Die Nacht ist ganz einfach unsere Freundin. Im Dunkeln, in der Stille und in der subtilen Schönheit der Nacht ruhen wir aus.“
Johan Eklöf: Das Verschwinden der Nacht. Wie künstliches Licht die uralten Rhythmen unserer Umwelt zerstört. Aus dem Schwedischen von Ulrike Strerath-Bolz. Droemer. 238 S., geb., 22 €.