„Aufmerksamkeitskurven und Empörungswellen“
Richard David Precht und Harald Welzer kritisieren, „wie Mehrheitsmeinung gemacht wird, auch wenn sie keine ist“
Irmtraud Gutschke
Gerade hat Wolf Biermann die beiden Autoren als „Secondhand-Kriegsverbrecher“ bezeichnet. Das steht nun ganz oben bei Google, wenn man die Namen Precht und Welzer eingibt. Bereits Ende April gehörten sie zu den Unterzeichnern eines „Offenen Briefes an Bundeskanzler Scholz“, in dem namhafte deutsche Intellektuelle vor einem 3. Weltkrieg warnten, sich für diplomatische Bemühungen um Frieden in der Ukraine und gegen die Lieferung immer stärkerer Waffen aussprachen. Wie „die Qualitätspresse von taz bis Welt die Urheberinnen und Urheber mit Angriffen und Häme von bestürzender Aggressivität“ überzog, musste ihnen unter die Haut gehen. Wobei dieses Buch nicht lediglich eine Reaktion auf diese Kränkung ist, wie manche Rezensionen anmerken. Die Meinung der Autoren zum Ukraine-Konflikt hat sich nicht geändert. In ihrem wägend rationalen Herangehen – eben auch im Sinne europäischer Interessen – können sie viele an ihrer Seite wissen. Was sie generell interessiert: woher – auch zu diesem Thema – „die soziale Konformität der Realitätswahrnehmung in den Leitmedien und das damit einhergehende ‚Gruppendenken‘“ kommt. Da lässt sich leicht mit einem Zitat aus der „Deutschen Ideologie“ von Marx und Engels antworten, das auf Seite 178 dann endlich auftaucht: „Die Gedanken der herrschenden Klasse sind in jeder Epoche herrschende Gedanken.“
Das möchten Richard David Precht und Harald Welzer (die einzelnen Kapitel sind nicht unterzeichnet) allerdings lieber auf totalitäre Systeme beziehen als auf „moderne liberale Gesellschaften“. Denn wenn man unsere „Demokratie“ so illusionslos betrachtet wie etwa der Wahrnehmungspsychologe Rainer Mausfeld in „Warum schweigen die Lämmer“, könnte man ja bezüglich ihrer Perspektiven entmutigt werden. Die beiden Autoren aber wollen aufklären, überzeugen, um etwas innerhalb der Machtverhältnisse zu verbessern. Innerhalb des intellektuellen Milieus, in dem sie sich bewegen. Sie wollen in Mediendebatten weiterhin ihre Stimmen behalten, und das ist ihnen auch gelungen.
Wolf Biermann beiseitegelassen, das Buch macht eine breite Front auf, wenn von „den Leitmedien“ die Rede ist. Es greift diejenigen an, die dort tätig sind und sich gegen Pauschalisierung wehren dürften. Im nd kann man da gelassener sein, weil diese Zeitung die Rolle als „Zentralorgan“ längst hinter sich gelassen hat. Die Verführungen des Hauptstadtjournalismus, mit Vertretern der großen Politik auf Du und Du zu sein, treffen uns nicht. Umso interessanter zu durchdenken, wie Ideologie dennoch wirkt. Keines der medienkritischen Bücher – allein im Westend Verlag erschien eine ganze Menge – kommt ohne die Beschreibung solcher Mechanismen aus. Precht und Welzer konzentrieren sich ganz auf die journalistische Praxis und fächern auf, was aus ihrer Sicht in die Irre geht. Und nicht nur aus ihrer Sicht: So verrückt wie unsere Medienlandschaft „tickt“, entsteht eine Kluft zu den Leuten, die eigentlich erreicht werden sollen. Viele kehren sich ab – verärgert, resignierend bis hin zu rechtem Ressentiment.
So viele verschiedene Studien es in jüngster Zeit zum Vertrauen in die Medien und überhaupt in die Demokratie gegeben hat, keine ist ermutigend. Da nehmen die Autoren des Buches sogar die Politik gegenüber den Medien in Schutz. „Die vierte Gewalt“, so ihre Kritik, lässt „die Öffentlichkeit“ verkommen, „zur Bühne permanenter Empörung“ werden. Es ist eine interessante These, dass weniger die Politik die Medien bestimmt als umgekehrt. Tatsächlich gehört es zum Spiel, dass Politiker auch angegriffen, gar demontiert werden. Aber dass Bundeskanzler Scholz das bisherige Prinzip deutscher Außenpolitik aufgab, „keine Waffen in Kriegsgebiete zu liefern“, lag es wirklich nur am medialen Druck im eigenen Land? Schon die Politik allein genommen ist ein Zusammentreffen von Interessen. Welche Rolle transatlantische Lobbyorganisationen spielen, in denen sich „Militärs, Wirtschaftsbosse und Politiker in diskreter Atmosphäre treffen“, wird auf Seite 103 angemerkt. „Und eben Journalisten!“ Diese Netzwerke spielen tatsächlich eine große Rolle zur Unterstützung von US-Interessen in der deutschen Öffentlichkeit. Niemandem kann es doch entgehen, wie derzeit die „Bündnistreue“ gegenüber den USA für die deutsche Regierung Priorität hat gegenüber der Pflicht vor der eigenen Bevölkerung. Da aus der Reihe zu tanzen, ist ebenso der journalistischen Karriere nicht förderlich.
„Nichtgewählte Journalisten wollen der Politik nicht nur auf die Finger schauen, sondern sie wollen sie machen“, heißt es schon zu Beginn des Buches. Ein berechtigter Vorwurf? Viele von ihnen sind doch in diesen Beruf gegangen, weil sie ihre Überzeugungen zum Ausdruck bringen, vielleicht gar etwas bewegen wollen. Dass sie diesbezüglich ein Privileg haben, auch klar. Die Frage ist, auf welche Weise sie es nutzen. Der „Hang zum Polarisieren, Simplifizieren, Moralisieren“, der hier mehrfach kritisiert wird, hat zunächst schon damit zu tun, dass sich solche Beiträge leichter herstellen lassen, zumal wenn sie den Produzenten aus dem Herzen sprechen. Hinzu kommt, wie in einem Kapitel ausführlich dargestellt, dass Menschen als soziale Wesen zu einem „Schwarmverhalten“ neigen. Wie sich „Wir-Gruppen“ gegen „Sie-Gruppen“ bilden, wird anhand von psychologischen und soziologischen Studien belegt. „Man weiß, was die Gruppe erwartet, weil man selbst ihre Normen teilt. Weshalb man im Fall einer Stigmatisierung auch weiß, was der eigene Fehler ist – genau deshalb ist das Stigma wirksam.“.
Nicht ausgespart ist die schwierige ökonomische Situation vieler Medien, was zu einem „zielgruppenorientierten Reichweitenjournalismus“ mit allen Mitteln führt. „Reiten von Aufmerksamkeitskurven und Empörungswellen“ – im Glauben, dass es „der Krawall“ ist, „der Quote macht“. Der aber irgendwann auch ermüdet in einem allgemeinen Klima der Überforderung. Dann wird eben die politische Tageszeitung abbestellt und „Landlust“ gelesen. Ob mehr Pluralität in der Öffentlichkeit der Stein der Weisen ist, wie die Autoren meinen, ich weiß es nicht. Wohl stimmig ist ihre Beobachtung, dass es bei der Berichterstattung zu Corona und zur Ukraine-Krise eine Tendenz zur „Geschlossenheit“ gab. Die Rolle der Medienagenturen ist aus meiner Sicht dabei wohl nicht zu unterschätzen. Wie andere Meinungen partiell dennoch laut werden können – und sei es in Leserbriefen –, dient der Beruhigung aufgebrachter Gemüter. Wie überhaupt das Stimmengewirr eine systemstabilisierende Komponente hat.
Auch im Medienbereich ist der Alltag härter geworden. Arbeitsverdichtung, Konkurrenz und Entlassungen – das „journalistische Prekariat“ als Reservearmee und auf der anderen Seite die „Herstellung gefühlter Bedeutsamkeit“ bei den Etablierten. In der neoliberalen Gesellschaft herrscht ein Zwang zur Selbstbehauptung, der bis zur Selbstinszenierung reicht: Du darfst nicht abrutschen, musst nach oben. Ausführlich analysiert werden die Folgen der Digitalisierung. Was wird nicht alles getan, um Klick-Zahlen zu erhöhen. „Hochgeschwindigkeitsjournalismus, Verlust an Sorgfalt“. Treffend ausgedrückt: „Pluralismus ist nicht mehr als ein Pool, aus dem die dicksten Fische herausgezogen werden.“
So wie sie pauschal mit den „Leitmedien“ abrechnen und einer ganzen Gilde auf die Füße treten, mussten Richard David Precht und Harald Welzer auf Gegenwind gefasst sein – und kamen mit ihrem Buch auf Anhieb an die Spitze der Spiegel-Bestsellerliste. Kraftvoll formuliert, wird hier zugespitzt, wie „Mittel des Boulevards“ überhand nehmen. „Im Gegensatz zu früher wird die Kommunikation immer hysterischer.“ Sogar von einem „Emotionskindergarten“ ist die Rede. In Zeiten innerer wie äußerer Krise sind derlei Ermahnungen an Journalistinnen und Journalisten gut gemeint, im Sinne von Demokratie Polarisierungen nicht noch zu verstärken, integrierend zu wirkend, statt sich in einer „Trivialwelt von Gut und Böse, Richtig oder Falsch“ zu bewegen. Da bietet die Lektüre durchaus Denkstoff, um eigenes Tun in dialektischen Zusammenhängen zu sehen. Denn aus bester Absicht, wenn emotional zugespitzt, kann auch Gegenteiliges entstehen. Alles hat eine Kehrseite. Auch „lösungsorientierter Journalismus“, wie es im letzten Kapitel heißt, statt den Eindruck zu erzeugen, „dass permanent Katastrophales sich ereigne“. Mehr Ausgewogenheit, mehr Ernsthaftigkeit und Tiefgang im journalistischen Milieu – das klingt zunächst nur wie ein frommer Wunsch. Da sich aber noch viel mehr in dieser Gesellschaft ändern muss, mag es nicht bloß in den Wind gesprochen sein.
Richard David Precht und Harald Welzer: Die vierte Gewalt. Wie Mehrheitsmeinung gemacht wird, auch wenn sie keine ist. S. Fischer Verlag, 287 S., geb., 22 €.