Eine Bühne blutiger Dramen
Für den Kurden Bachtyar Ali ist Schreiben ein „Akt des Widerstandes“
Irmtraud Gutschke
Seinen ersten Roman hat er in einer verlassenen Lehmhütte verfasst – in einem unzugänglichen Berggebiet im Norden von Irak, wo er mit seinen Freunden hoffen durfte, nicht entdeckt und verhaftet zu werden. Schwieriges Leben in der Wildnis, aber was ihm am meisten fehlte, war Lektüre. Im letzten Essay dieses Bandes, „Erinnerungen eines Lesers“, erzählt Bachtyar Ali, wie er inmitten verbotener Bücher aufwuchs, die von seinen Verwandten verbrannt wurden, denn ihr Besitz bedeutete Lebensgefahr. Doch die Liebe zur Literatur war größer als die Angst. Was hat er später nicht alles unternommen, um an Bücher zu kommen. Aus besagter Lehmhütte machte er sich heimlich auf nach Iran, was ohne entsprechende Dokumente gefährlich war. Doch die Buchhandlungen in Teheran lockten. „Wir aßen nur wenig, um mit dem Geld möglichst viele Bücher kaufen zu können.“ Sie füllten Jutesäcke damit und machten sich getrennt auf den Weg. Einer wurde verhaftet und kam erst nach einer Weile wieder frei. Für ein paar Monate war Bachtyar Ali allein in den Bergen. Einen zweiten Winter dort würde er nicht schaffen. Da erzählt er uns, wie er auf nächtlichem Marsch über schmale Bergpfade ein Bündel mit Büchern einem Maultier auflud – Hegel, Cassirer, Wittgenstein, Böll… –, wie er bei seinen Verwandten untertauchte und es Mitte der 90er Jahre nach Deutschland schaffte. Beim Verhör am Flughafen wurde er nach dem Grund seiner Flucht gefragt. Mit seinem ersten Satz verblüffte er den Beamten: „Um in Ruhe lesen zu können.“
Nach mehreren Romanen im Unionsverlag Zürich, zuletzt „Mein Onkel, den der Wind mitnahm“, hat Bachtyar Ali nun einen Band mit Essays veröffentlicht. Faszinierend: Im Spannungsfeld seiner kurdischen Erfahrungen durchdenkt er das Leben im Westen und blickt von hier aus auf den „Orient“ als „eine Bühne blutiger Dramen“. Warum haben diktatorische Regime dort vielfach die Oberhand gewonnen? Wieso hat der technische Fortschritt der Vorherrschaft des Islam nichts anhaben können? „Ein Gott, der Autobomben erschafft“ – wie konnte eine Religion dermaßen in Gewalt ausarten? Deutlich wird einem beim Lesen, wie folgenreich der Zerfall des Osmanischen Reiches nach dem Ersten Weltkrieg war. Es ist ja vielen gar nicht bewusst, was für ein riesiges Gebiet ab 1299 osmanisch war. Dass lokale Herrscher wohl Tribut zahlten, aber jedes Volk in einer eigenen Welt leben konnte, veränderte sich durch Grenzziehungen unter der Aufsicht europäischer Mächte, die ihre Stellvertreter vor Ort etablierten und mit Waffen versorgten. „Für die Privilegierten in ihrem Machtrausch wurde Gott zu einem nationalistischen Gott, der Araber, Türken, Perser bemächtigte, gegen andere Völkerschaften und Glaubensrichtungen, gegen Kurden, Jesiden, Juden, Christen, Bahai und viele andere vorzugehen.“
Dieses Buch lesend begreift man zugleich, welche mentalen Bedürfnisse der Islam vielen Menschen erfüllt, denen die Religion zum Schutzschild gegen Vereinzelung und politische Ohnmacht wurde. „Gott ist zurückgekehrt, … weil die Politik Umstände erschaffen hatte, in denen die Menschen nicht ohne die Idee des erlösenden Retters leben konnten.“ Täuschungen entdeckt der Autor nicht nur im imperialistisch geprägten Orientbild des Westens, sondern ebenso im Selbstbild vor Ort, in dem eine „ängstliche Seele“ steckt. Diese offenbart sich besonders auch im Bild des Männlichen. „Die Angst davor, sich nicht als ‚Mann‘ zu zeigen und zu beweisen, als Mann nicht wahrgenommen zu werden, ist allgegenwärtig“ in den patriarchalischen Gesellschaften. Damit verbunden sei auch die Anziehungskraft des Militärischen.
Auf welche breite Front der Abwehr müssen da westliche Wertvorstellungen stoßen, überlegte ich beim Lesen. Weil Bachtyar Ali die deutsche Wirklichkeit aus nächster Nähe kennt, kann er die Entfernung ermessen, die uns von Völkern anderer Kontinente trennt. Auch wenn sie uns auf Urlaubsreisen freundlich entgegentreten und manche gerne zu uns kommen wollen, viele Menschen dort fühlen sich vom Westen in ihrer Lebensweise nicht verstanden, ja bedroht. Auch können wir uns kaum eine Vorstellung machen, wie alltäglich die Bedrohung im Inneren ist, allein schon weil staatliche Willkür jederzeit durchschlagen kann. „Je niedriger der gesellschaftliche Rang der Männer, umso stärker wird ihre Angst vor Verlust der Macht und Männlichkeit“, heißt es in Bachtyar Alis glänzenden Essay „Der Kriminalroman und die großen Verbrechen“. Das sei wie ein drohender „Verlust des Phallus“, sei wie „Kastrationsangst“. Insofern würde der Geist der Revolution auch nicht mit Freiheit im westlichen Sinne assoziiert, sondern mit dem Konzept von Männlichkeit. Das einerseits ererbt ist, füge ich in Gedanken hinzu, andererseits auch vieles in einem ärmlichen Alltag kompensieren muss. Es ist eine andere Welt, die wir als solche erst einmal erkennen, ja akzeptieren müssen.
Scharfsinn, Schmerz und Sehnsucht nach Schönheit. Schreiben sei für ihn ein „Akt des Widerstandes“, so Bachtyar Ali. Und obwohl er ebenso Arabisch, Persisch, Deutsch und Englisch spricht, ist seine kurdische Muttersprache für ihn wie „ein reicher, verwunschener Zauberwald“ geblieben. „Für die Romanliteratur war dieser Wald Neuland, seine dunklen Winkel waren noch nie erschlossen worden.“ In diesem Sinne hat er auch seinen eigenen Werken eine besondere Magie gegeben. Daneben wird dieser Essayband, klar und direkt formuliert, in Erinnerung bleiben als überaus aufschlussreiche, erhellende Lektüre.
Bachtyar Ali: Das Lächeln des Diktators. Essays. Aus dem Kurdischen (Sorani) von Ute Cantera-Lang und Rawezh Salim. Unionsverlag, 135 S., geb., 19 €.