Das Höchste – der Augenblick
„Der Wind erhebt sich“ von Tatsuo Hori erstmals auf Deutsch
Irmtraud Gutschke
„Eine der wichtigsten japanischen Kostbarkeiten des 20. Jahrhunderts“ kündigt der Mitteldeutsche Verlag an, und dieses Lob ist keineswegs übertrieben. Tatsuo Hori (1904-1953) war neben seiner Arbeit als Schriftsteller auch Übersetzer aus dem Französischen. Autoren wie Guillaume Apollinaire, Jean Cocteau, André Gide, Marcel Proust, François Mauriac, aber auch Rainer Maria Rilke hat er ins Japanische gebracht. Rilke wird in dieser zwischen 1936 und 1938 entstandenen Novelle auch zitiert. Ihr Titel – „Der Wind erhebt sich“ – ist indes einem berühmten Gedicht von Paul Valéry (1871-1945) entlehnt, das seinerseits von Rilke ins Deutsche übersetzt worden ist: „Der Friedhof am Meer III“ ist ein wortgewaltiges Schwingen zwischen Melancholie und ekstatischem Aufbegehren gegen den Tod.
Tatsuo Hori hat dieses Aufbegehren wohl gekannt. Wie Setsuko in seiner Novelle litt er an Tuberkulose, hat Lungensanatorien von innen gekannt, dem Leiden einer Freundin dort zusehen müssen und ist selbst mit nur 48 Jahren gestorben. Ein Sanatorium in den Bergen: Unwillkürlich denkt man bei diesem Sujet an Thomas Manns „Zauberberg“. Auch hier eine abgeschlossene Welt, der allerdings nichts Ironisches anhaftet. Existenzieller Ernst ist der Hintergrund für diese Liebesgeschichte, in der ein Mann mit dem Gedanken klar kommen muss, dass er die Frau seines Lebens verliert. Verliert, ehe sie überhaupt dazugekommen sind, richtig miteinander zu leben.
Frühling, Sommer, Herbst und Winter in den Bergen: Der Ich-Erzähler hat seine Verlobte ins Sanatorium begleitet, kann sich aus dem Krankenzimmer in eine Kammer zurückziehen, ist aber fast Tag und Nacht bei ihr. Sie will ihre Schwäche verbergen, er sich nichts von seinen Ängsten anmerken lassen. Das gleißende Licht am Morgen, das satte Grün der umliegenden Wälder, der rote Sonnenuntergang – und das quälende Wissen, die Zeit nicht anhalten zu können. Doch aus der Wehmut erhebt sich immer wieder ein seltsam betörender Augenblick. Als ob „die Natur nur in den Augen eines Sterbenden wahrhaft schön“ sein kann. flammt plötzlich das Glück auf. Faszinierend ist, wie hier ein Ich sich der Natur öffnet, verändert wird durch deren sensible Wahrnehmung. Aber vor allem ist es die unbedingte Hingabe an die geliebte Frau, die das Erzählte so besonders macht. Ihr körperlicher Verfall führt zu keinerlei emotionalem Rückzug. Im Gegenteil.
Aber wurde das alles vielleicht im Nachhinein verklärt? Schließlich beginnt der Ich-Erzähler ja, eine Erzählung über das Erlebte zu schreiben – entsprechend seinem Wunsch, im gefährdeten Zusammensein das höchste Glück zu entdecken. Romantisches Sehnen: das Höchste eines Lebens im Augenblick erreichen und dann sterben. Wie Tatsuo Hori die Interpretation seiner Novelle auf Seite 48 sogar mitliefert, gibt dem Text eine zweite Ebene: als persönliche Anstrengung, im Künstlerischen das durchaus Niederdrückende der Realität zu überwinden. Ja sogar den Tod. In diesem hochpoetischen Text steckt somit eine beeindruckende Seelenarbeit, an der uns der Autor teilhaben lässt.
„Der Wind erhebt sich, nun gilt es zu leben“, heißt es bei Paul Valéry, der später selbst auf dem „Cimetière marin“ im südfranzösischen Sète begraben wurde. Tatsuo Horis Novelle hat Hayao Miyazaki zu einem gleichnamigen Manga und 2013 zu einem mehrfach preisgekrönten Kinofilm inspiriert.
Tatsuo Hori: Der Wind erhebt sich. Novelle. Aus dem Japanischen von von Sabine Mangold. Mitteldeutscher Verlag, 84 S., geb., 16 €.