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Die Botschaft des Schuppentiers
„Von Okapi, Scharnierschildkröte und Schnilch“ – ein prekäres Bestiarium von Heiko Wernig und Ulrike Sterblich
Von Irmtraud Gutschke
Hallo, hier ist Irmtraud Gutschke und ich begrüße euch wieder von meinen Bücherbergen – mit einem Band, über den ich lange, lange sprechen könnte: „Von Okapi, Scharnierschildkröte und Schnilch“ ist eine Sammlung von 48 Tiergeschichten. Wie der Titel sagt, nicht von Hase, Wolf und Igel, sondern von Tieren, von denen ihr womöglich noch nie was gehört habt. An das Okapi habe ich mich allerdings gleich erinnert. Denn ich habe mal eines im Berliner Tierpark gesehen. Vor Jahren – offen gesagt, war ich schon lange nicht mehr dort. Bei den Eintrittspreisen müsste man sich einen ganzen Tag lang Zeit nehmen, aber wann soll ich dann noch lesen? Das Okapi sieht überaus interessant aus: etwa so groß wie ein Esel, hat es gestreifte Beine wie ein Zebra und einen Kopf wie eine Giraffe. Und etwas Besonderes ist seine Zunge, die ist nämlich 45 Zentimeter lang. In Erinnerung ist mir, wie lange sich die Tierpflegerin abmühte, es in den Stall zu bringen. Jetzt lese ich, dass dieses besondere Wesen, eine „Waldgiraffe“, außerordentlich scheu ist. Sollte man es da nicht in seinem verborgenen Lebensraum lassen, statt es den neugierigen Blicken von Zoobesuchern auszusetzen? Aber das wäre sein Ende, wie ich jetzt erfahre. Denn die Regenwälder der Republik Kongo, wo die Okapis leben, werden dezimiert durch Agrarwirtschaft und Rohstoffabbau. Zwar gibt es dort ein Okapi-Wildreservat, aber das wurde im Sommer 2012 von bewaffneten Rebellen angegriffen und niedergebrannt. So liegt die Hoffnung für diese Tiere – wie für andere Arten auch, bei den Zoos.
Zoos sind eben nicht nur für ein staunendes Publikum da, sondern vor allem auch für selten gewordene Tierarten, die zu schützen sind. Es sind wissenschaftliche Einrichtungen, international vernetzt. Zuchtbücher werden geführt, gemeinsame Auswilderungsprojekte organisiert. Die kamen zum Beispiel den Przewalski-Pferden zugute, von denen das letzte 1969 von mongolischen Biologen in freier Wildbahn gesehen wurde. Aber glücklicherweise, muss man heute sagen, wurden um 1900 herum von Privatsammlern Tiere eingefangen. Der Zoodirektor Carl Hagenbeck kaufte einige davon. Die ganze heute lebende Population dieser in der Mongolei Tachi genannter Pferde geht auf 13 Tiere zurück. 1992 wurden dann die ersten wieder in der mongolischen Steppe ausgewildert, was ein mühsamer und langwieriger Prozess ist. Inzwischen galoppieren 800 wieder dort herum.
Begeisternd, nicht wahr. Und ähnliches geschah auch mit anderen Arten. Der Ur mit seinen 20 cm langen Hörnern, auch Auerochse genannt und schon auf den Höhlenzeichnungen von Lascaux zu finden, war im 15. Jahrhundert weitgehend ausgerottet. 1627 starb das letzte bekannte Tier in einem polnischen Schutzgebiet. Dass die Rückzüchtung aus dem Erbmaterial der von ihm abstammenden Hausrinderrasen dann von dem Nazi Hermann Göring unterstützt wurde, gehört ebenso dazu wie die Tatsache, dass in dem für die Rindviecher vorgesehenen Waldgebiet 20 000 Menschen erschossen, vertrieben oder deportiert wurden und nur 39 dieser „Heckrinder“ die Kriegswirren überlebten. Sie wurden durch weitere Einkreuzungen „entnazifiziert“, heißt es im Buch, und sind der imposanten Größe des Ur noch näher gekommen.
Auch die vor 250 Jahren in Deutschland ausgerotteten Wisente sind dank einiger Zoos und Privathalter wieder da. Eine prächtige Herde, ist zu lesen, gibt es bei Bad Berleburg, zum Ärger von Forstbesitzern, weil sie Bäume beschädigen können. Ist es für sie zumutbar, dass sie auf richterlichen Beschluss statt 130 Quadratkilometer nur fünf Platz bekommen sollen. Inzwischen landete der Fall in Karlsruhe.
Interessenkollisionen, die von Menschen immer wieder zu Ungunsten von Tieren entschieden werden. Seit jeher. Wenn aus Wäldern Ackerflächen werden, Staudämme gebaut, chemische Mittel eingesetzt werden, wenn Lebensräume verschwinden oder einfach nur das Futter knapp wird wie für den Feldhamster durch Monokulturen, Pestizide und den Einsatz von Erntemaschinen, die kaum mehr Ähren stehen lassen. Bis in die 70er Jahre hinein galten sie als Schädlinge und wurden gezielt vernichtet. Inzwischen gibt es wieder gezielte Zucht- und Auswilderungsprogramme, was bei den Hamstern leichter ist als bei den Eisbären, die die Eisschollen brauchen, um Robben erlegen zu können, die im Wasser schneller sind als sie. Und jetzt schmilzt bekanntlich das Eis. Auch durch die Förderung von Öl und Gas in der Arktis sind sie bedroht. Sie artgerecht in Zoos zu halten, ist aufwändig, aber es führt kein Weg daran vorbei.
Schlimm ist es für Tiere, wenn sie etwas haben, worauf Menschen scharf sind. Wie das Panzernashorn, dessen Horn allerlei Wunderwirkungen zugeschrieben werden. Auch für die Knochen der Schneeleoparden gilt das. Auch wegen ihres prächtiges Fell werden sie gejagt, sodass nur noch 3000 bis 6000 von ihnen übrig sind. Der blaue Spix-Ara ist so prächtig, dass er sehr teuer gehandelt wird. Von 20 000 Doller pro Stück ist im Buch die Rede. Das machte ihn zur Beute. Ein Berliner Züchter soll sich ihrer angenommen haben. 90 Prozent des globalen Bestandes sollen nahe der deutschen Hauptstadt leben, aber 52 sollen inzwischen in ihr ursprüngliches Verbreitungsgebiet reexportiert worden sein …
Spannend, nicht wahr. Ich kann euch versprechen: Jede der 48 Geschichten ist ein Juwel. Interessant, was die meist unbekannten Fakten betrifft, in einem leichten Plauderton erzählt, mit Witz, wenn es sich anbietet, und gekonnt komponiert. Nicht nur über die Lebensräume und Besonderheiten der einzelnen Arten bis hin zu ihrem Fortpflanzungsverhalten erfährt man viel, Heiko Werning und Ulrike Sterblich haben auch immer wieder amüsante Begebenheiten ausgegraben: wie ausgerechnet en Mitglied des Zuchtprogramms für den kalifornischen Kondor in seinem Haus von einem ganzen Schwarm besucht wurde, wie zwei Philippinen-Krokodile mit einem Begrüßungskomitee samt Begrüßungsspruchbanner in ihrer Heimat empfangen wurden und wie schwierig es ist, den Jungen des Waldrapp den Weg nach Süden zu zeigen, wenn sie ohne Eltern aufgewachsen sind. Da müssen Tierschützer tatsächlich in Ultraleichtflieger steigen, motorisierte, offene Dreiräder, die an einem Drachen baumeln, und den Vögeln vorausfliegen.
Heiko Werning und Ulrike Sterblich sind tatsächlich Meister darin, Texte informativ und unterhaltsam zu gestalten und sie brennen für ihr Anliegen, etwas für den Erhalt der Artenvielfalt auf unserem Planeten zu tun. Die gesamten Autorenhonorare plus 50 Cent für jedes verkaufte Buch fließen an die Organisation „Citizen Conservation“, die privaten Haltern Unterstützung gibt, wenn sie sich um bedrohte Arten kümmern. Wollt ihr gern für einen Prachtgurami sorgen oder für eine Scharnierschildkröte – nur zu.
Während der Corona-Pandemie wurden in Pelztierfarmen 15 Millionen Nerze gekeult und auf die Schnelle in Massengräbern verscharrt, wo sich Fäulnisgase bildeten. Es stank bestialisch. Phosphor und Stickstoff drohten, das Grundwasser zu verseuchen. Und wer stand neben den Fledermäusen auch für Corona am Pranger? Das Pangolin, das in Asien als Delikatesse gilt. „Die Rache des Schuppentiers“ soll die FAZ damals getitelt haben. Aber: „Schuppentiere haben keine Rachegelüste“, heißt es im Buch. Ein Pangolin gelüstet es nach Termiten – und Sicherheit. Es ist Teil der evolutionären Schöpfung, es will nicht beherrschen, nicht unsterblich sein, sondern einfach nur existieren und seine Bedürfnisse stillen.“ Darin, so meinen die Autoren, besteht auch die Faszination, wenn wir Tiere beobachten. „Es ermöglicht uns, einzutauchen in die Natur, uns ihr zugehörig zu fühlen.“
Bartgeier und Biber, Blutegel und Löwenäffchen, Pillendreher und Tasmanischer Beutelteufel, das Vulkankaninchen und der Wangi-Wangi-Brillenvogel – aber was bitteschön ist ein Schnilch? Sein Anblick soll glücklich machen. Wer weiß. Mit diesem Buch gelingt das garantiert.
Heiko Werning, Ulrike Sterblich: Von Okapi, Scharnierschildkröte und Schnilch. Ein prekäres Bestiarium. Galiani Berlin, 240 S., geb., 22 €.