„Gott ist die Wirklichkeit des Glaubens“
Hartmut von Sass skizziert in einem glänzenden Essay den Versuch einer atheistischen Religion
Irmtraud Gutschke
In Tschingis Aitmatows Roman „Die Richtstatt“ verlässt der Priesterschüler Awdij das orthodoxe Priesterseminar (oder vielmehr wird er entlassen) im Streit. Wohl verstanden werden seine Fragen nach einer „neuen, zeitgemäßen Form Gottes“, weil „alle traditionellen Religionen hoffnungslos veraltet sind“, doch wird er vehement zurückgewiesen. Denn „Gottsuchertum ist für die Kirchenoberen das schrecklichste Verbrechen gegen die Kirche“. Der Gedanke an die Ansprüche dieser Institution bleibt auch bei der Lektüre dieses Bandes im Hintergrund.
Prof. Dr. Hartmut von Sass, 1980 in Rostock geboren, war sechs, als Aitmatows berühmter Roman auch in der DDR Furore machte. Er mag ihn nicht kennen. Doch sein Essay hätte Awdij aus dem Herzen gesprochen.
„Atheistisch glauben“: Der Titel könnte vermuten lassen, dass es um das Dogma eines sturen Atheismus geht, der in seiner Religionskritik auf andere Weise eifernd ist. Denn die sich trotzig Atheisten nennen haben ja ebenso ihren Glauben, auch wenn sie das wissenschaftliche Weltanschauung nennen. Aber das stellt der Autor überhaupt nicht in Frage. Ungeachtet anderer Behauptungen, sieht er von vornherein keine Konkurrenz zwischen Glaube und Wissenschaft. Wie drei Personen vor einem Bild zu verschiedenen Aussagen kommen können, ist die Welt aus seiner Sicht offen, auf unterschiedliche Weise verstanden zu werden „Die Frage, was die Welt ist, erlaubt keine stabile Antwort, sondern hängt von der Vielfalt der Perspektiven ab, die man zu ihr einnimmt.“ Kommt indes eine religiöse Perspektive hinzu, „ist das, was wir Welt nennen, reicher geworden und bleibt für weiteren Reichtum an Beschreibungen offen“.
Als Professor für Systematische Theologie und Religionsphilosophie ist Hartmut von Sass mir weit voraus, um zu beurteilen, inwieweit seine Ansichten, die früher zweifellos als Häresie angesehen worden wären, auch innerhalb der Kirche Fürsprecher finden. „Atheistisch glauben“ heißt für ihn, vom traditionellen Theismus Abschied zu nehmen, der Gott als Person sieht, auch wenn diese körperlos bleibt, als einen vollkommenen Schöpfergott, der Allwissenheit, Allmacht und Güte verkörpert. Aber hat der christliche Glaube (nicht nur er) nicht darin seinen Dreh- und Angelpunkt?
Dass Glaube generell eine „unübersehbare Vielfalt von Überzeugungen, Haltungen, Gefühlen und Motivationen“ beinhaltet, meint Hartmut von Sass. Etwas zu glauben, sei nicht auf die religiöse Sphäre abonniert. Und er hält ja durchaus am Gottesbegriff fest, indem er einen Sinn darin erkennt, Natur als Schöpfung, Mitmenschen als „Nächste“ und uns selbst als von Gott begleitete Geschöpfe zu sehen. Gott, so meint er, wird für die Menschen wirklich, „indem er an ihnen wirkt“, indem sie „in Gottes Wirklichkeit“ versuchen zu leben. „Gott ist die Wirklichkeit des Glaubens.“
Normal ist, dass Zweifel dazugehören. „Der Glaube erkennt an, stets vom Unglauben umfangen zu bleiben“, mit Anfechtungen, Versuchungen kämpfen zu müssen – und dabei, so füge ich hinzu, eben einen Halt in sich zu finden, ob in der kirchlichen Gemeinschaft oder „nur“ im persönlichen Gebet. „Glauben als eine Weise, das Leben zu führen“, verweist auf einen praktischen Aspekt, klammert aber gerade das Spirituelle nicht aus. Wie viele Fragen an das Christentum schon gestellt wurden, beginnend damit, wie Gott denn Schlimmes „zulassen“ konnte, bezieht der Autor in seine Erwägungen ein, die auf die unbestreitbare Tatsache hinzielen, dass Glaube in den Wirrnissen des Lebens Orientierung und Halt geben kann. „Könnte Gottes Schöpfung , an die ein Mensch glaubt, nicht die Haltung zu allem – in Dankbarkeit und im Wissen , dass alles ein Geschenk ist – von Grund auf ändern?“
Von der Wirkung her gedacht, ist das stimmig. Der Unterschied zwischen Konfession und konfessionslos wird überbrückt. Insofern richten sich die Gedanken des Autors auch an diejenigen, die nicht Mitglied einer Kirche sind. Denn eigentlich, eigentlich hat doch jeder irgendwie seinen Glauben. „Der Glaube nimmt der Welt nichts; im Gegenteil, er bereichert sie, indem diese Welt neu beschrieben, gleichsam ‚aus dem Nichts neu geschaffen‘ wird!“ Dieses Zitat auf dem Buchumschlag möge, so wünscht man sich, einen Leserkreis anziehen, der sich nicht nur auf Theologen beschränkt.
„Meine Kirche, das bin ich selbst“, meint Awdi. Er geht seinen christlichen Weg bis zur letzten tragischen Konsequenz, gleichsam bis zum Tod am Kreuz. Und der Streckenarbeiter Edige aus einem anderen Roman von Tschingis Aitmatow, „Der Tag zieht den Jahrhundertweg“, spricht am Grab seines Freundes Kasangap in der Wüste ein islamisches Gebet und fügt in eigenen Worten hinzu, was, wie ich meine, auch zu Hartmut von Sass‘ Essay passt: „Niemand weiß, niemand wird je erfahren, ob es einen Gott gibt… Ich aber möchte daran glauben, dass es dich gibt und dass du in meinen Gedanken gegenwärtig bist. Und wenn ich mich an dich wende mit meinen Gebeten, dann wende ich mich tatsächlich über dich an mich selbst; und in so einer Stunde ist es mir gegeben, zu denken, als würdest du selbst denken, o Schöpfer. Das ist doch entscheidend! Sie aber, die Jungen, haben nichts dergleichen im Sinn, sie verachten Gebete… Leid tun sie mir, wie sollen sie das Geheimnis ihres Menschseins erfassen können, wenn es für sie keinen Weg gibt, sich in Gedanken emporzuschwingen, als wäre jeder von ihnen plötzlich Gott? Verzeih mir die Lästerung. Keiner von ihnen wird zu Gott, aber ohne das endet auch deine Existenz. Wenn erst der Mensch die Fähigkeit einbüßt, sich insgeheim als Gott zu begreifen, der für alle so eintritt, wie du für die Menschen eintreten müsstest, dann wird es auch dich, o Gott, nicht mehr geben. Ich aber möchte nicht, dass du spurlos verschwindest.“
Hartmut von Sass: Atheistisch glauben. Ein theologischer Essay. Matthes & Seitz, 151 S., br., 14 €.