Eine Vision und viele vertane Chancen
Streitbar und voller interessanter Fakten: „Russisches Roulette. Vom Kalten Krieg zum Kalten Frieden“ von Horst Teltschik
Von Irmtraud Gutschke
Fotos im Band zeigen ihn in schönem Einvernehmen mit Gorbatschow, Reagan und Bush – später auch mehrmals mit Wladimir Putin. „Miteinander reden hilft.“ Eine „Binsenweisheit“, so Horst Teltschik. Wobei die friedensstiftende Mission der Diplomatie doch immer gebunden ist an das, was jeweilige Politik von ihren Vertretern verlangt. Sich „diplomatisch“ verhalten heißt, das eigene Umfeld und das der anderen Seite genau einschätzen zu können. Was bedeutet: Man kann nicht mit dem Kopf durch die Wand.
Wobei ein diplomatischer Könner wie Horst Teltschik sich natürlich nicht vor Politikern verkriecht. Wenn er in diesem Buch mehrmals das politische Geschick Helmut Kohls betont, im internationalen Dialog Vertrauen aufzubauen, so weiß doch jeder kundige Leser, welchen Anteil der langjährige außenpolitische Berater daran hatte. Im Schatten agierend ist er auch einer der wichtigsten Konstrukteure der deutschen Einheit gewesen, natürlich auch das wieder im internationalen Kontext. Er ist nicht der erste und nicht der letzte, der für bessere Beziehungen zu Russland plädiert. Aber sein persönlicher Hintergrund gibt seiner Meinung Gewicht, vor allem eben auch dort, wo man sich bequem in anderen Sichtweisen eingerichtet hat.
Wer Russland kennt und die Sprache spricht, wird sich über dieses Buch freuen, weil die eigene Meinung Bestätigung findet. Die könnte man wohl noch schärfer formulieren. Aber was ist Ergebnis solcher Schärfe? Frontlinien noch und noch, auch hierzulande, und auf beiden Seiten Leute, die zunehmend nicht bereit sind, andere Ansichten auch nur zur Kenntnis zu nehmen. In der internationalen Politik geht es indes um Machtinteressen. Wer zu Horst Teltschiks Buch greift, wird sich dessen bewusst sein. Bewundernswert sein Geschick, in diesem Kraftfeld zugleich mit Verständnis und Entschiedenheit zu formulieren. Vor der Gefahr eines neuen nuklearen Wettrüstens kann doch niemand die Augen verschließen. Erst unlängst forderte ein Gutachten deutscher Friedens- und Konfliktforscher von der Bundesregierung, Rüstungsexportkontrollen zu verstärken und eine Erosion der Beziehungen zwischen der NATO und Russland zu verhindern.
„Russisch Roulett“: Dieses Glücksspiel auf Leben und Tod soll von Soldaten im Ersten Weltkrieg erfunden worden sein. In der Trommel eines Revolvers befindet sich nur eine Patrone, aber niemand weiß, an welcher Stelle. Wer sich den Revolver an die Schläfe setzt, liefert sich dem Zufall aus. Solche Leichtfertigkeit registriert Horst Teltschik in der westlichen Politik. „Die verzerrte Wahrnehmung des Kontrahenten auf beiden Seiten ist nicht ungefährlich, denn sie verkleinert die diplomatischen Spielräume, steht einem Interessenausgleich im Wege und macht die rasche Eskalation von Konflikten wahrscheinlicher.“ Wobei es aus seiner Sicht schon einmal anders war. Der Kalte Krieg konnte nur beendet werden, indem man die sowjetische Seite mit ihren Interessen ernst nahm. Doch als die eine Großmacht meinte, über die andere gesiegt zu haben, änderte sich das. Denn, wo gesiegt wird, wird zu Ende gesiegt. Dieser Ausspruch Hermann Kants kommt mir immer wieder in den Sinn – als Bezeichnung jener Unklugheit, eine Eskalation des Kampfes bis ins Unendliche zu programmieren. Denn Demütigung rächt sich. Wer eine ausgestreckte Hand dafür nutzt, den anderen über den Tisch zu ziehen, wird diesen fortan mit verschränkten Armen sehen. Es sei denn, dieser Andere ist sich selbst so gewiss, dass die erneut ausgestreckte Hand ein Zeichen von Stärke ist.
Was für Träume hatten wir! In Hoffnung auf ein gemeinsames europäisches Haus hat Gorbatschow Zugeständnisse gemacht. Im November 1990 in Paris wurde tatsächlich von allen 34 Staats- und Regierungschefs der KSZE-Staaten die „Charta für ein neues Europa“ unterzeichnet. Chancen auf eine gemeinsame Sicherheitsordnung und wirtschaftliche Vernetzung taten sich auf. Wie genau ist es geschehen, dass sie vertan worden sind? Was an diesem Buch fasziniert ist die Fülle von Fakten. Von 1958 bis heute ist das Hin und Her deutsch-sowjetischer bzw. deutsch-russischer Politik erklärt. Aus der Perspektive der BRD, nicht der DDR. Da mag jetzt bei Edition Ost erschienen Buch „Wir und die Russen“ von Egon Krenz weiteren Aufschluss geben. Hier aber wird man viel erfahren, was man nicht oder nur ungenau wusste, auch was die Gegenwart betrifft. Die stellt sich meiner Meinung nach aus russischer Sicht so dar, dass man Deutschland wohl Dialogfähigkeit zutraut, aber eben kaum mehr eine eigenständige Außenpolitik unter dem Druck der USA, die sich der osteuropäischen EU- und NATO-Mitglieder versichert haben. Horst Teltschik mag solchen Vorwurf zurückweisen, weil er sich immer schon als politischer Akteur gesehen hat. Von 1999 bis 2008 leitete er die Münchner Sicherheitskonferenz und ist bis heute als Politologe und Wirtschaftsberater tätig.
„Mit allem kann man fertig werden, Hauptsache es gibt keinen Krieg“, das habe ich immer wieder gehört, als ich Ende Mai, Anfang Juni in Moskau war. Im Sicherheitsbedürfnis nach innen und außen sieht Teltschik die historisch gewachsene Priorität russischer Politik. Geht es nur darum, dass dieses Interesse nicht ernst genommen wurde? Liegt es nur an der Einübung konfrontativen Denkens aus Zeiten des Kalten Krieges? Dass der Autor dieses Buches sich angesichts der Eskalationsspirale zwischen NATO und Russland an „Sandkastenspiele trotziger Kinder“ erinnert fühlt, mag vielen Lesern einleuchtend sein, greift aber bezüglich der Ursachen zu kurz.
„Sollte ein gemeinsames, freies und demokratisches Europa von Vancouver bis Wladiwostok nicht unser Traum sein“, schreibt er und zitiert einen Ausspruch der früheren israelischen Premierministerin Golda Meir: „Wer nicht an Wunder glaubt, ist kein Realist.“ Realistisch aber gesehen, könnte eine dermaßen riesige eurasische Union aus transatlantischer Sicht als geopolitisch-ökonomische Bedrohung verstanden werden. Teltschik wird nicht müde, die Bindung zu den USA zu betonen. Was ich über die Gefahr des Siegens schrieb, gilt auch hier. Nötig ist ein Ausgleich der Interessen. Doch wie schwierig wird der Weg dorthin sein?
„Früherer Kohl-Berater kritisiert Merkels Russland-Politik“, titelt der „Spiegel“, „Fangen wir an, auf Russland zuzugehen“, so die „Welt“, „Kein Grund, arrogant zu sein“, heißt es in der „Zeit“. Mehrheitsfähige Forderungen – wenn sie durch vorliegendes Buch auch im Medienbetrieb und in politischen Kreisen zu einem Umdenken beitragen können, hätte Horst Teltschik Großes erreicht.
Horst Teltschik: Russisches Roulette. Vom Kalten Krieg zum Kalten Frieden. C.H.Beck, 233 S., br., 16,95 €.