Willkommen in meinem Literatursalon
Irmtraud_Gutschke

Lesen macht glücklich, weil es uns sagt, wer wir sind und wer wir sein wollen, weil wir über uns hinauswachsen, in fremder Haut erleben dürfen, was uns sonst verschlossen bliebe. Heutzutage scheinen wir ja in Informationen zu ertrinken und haben doch das Gefühl, dass uns Wichtiges fehlt. Was ich suche, sind Bücher, die in diesem Sinne nachdenklich machen, ja auch solche, von denen ein Leuchten ausgeht. Viele Jahrzehnte habe ich als Literaturredakteurin mit Hunderten, ja Tausenden von Texten zu tun gehabt, auch selber Bücher geschrieben. Die Neugier auf Neues will ich hier mit anderen teilen.

„literatursalon.online“: Stellen Sie sich vor, wir sind zusammen in einem schönen Saal, und Sie möchten von mir wissen, was sich zu lesen lohnt. Was interessiert Sie denn, frage ich zurück. Politische Sachbücher? Gute Romane und Erzählungen? Spannende Krimis? Bildbände, die man immer wieder betrachten möchte? Mit meiner Auswahl lade ich Sie zu Ihren eigenen Entdeckungen ein.

Irmtraud Gutschke

Wenn Sie mehr über mich erfahren wollen - meine Biografie, meine Bücher und Veranstaltungen - , schauen Sie auf meine Webseite www.irmtraud-gutschke.de

Ljudmila Ulitzkaja: Alissa kauft ihren Tod

Podcast auf https://www.dasnd.de/buecherberge

Unabwendbares und Unvorhersehbares

„Alissa kauft ihren Tod“, neue Erzählungen von Ljudmila Ulitzkaja

Von Irmtraud Gutschke

Eine packende, geradezu beglückende Lektüre: Zu diesem Lob für die Erzählungen von Ljudmila Ulitzkaja trägt natürlich maßgeblich auch die Übersetzung durch Ganna Maria Braungardt bei, die die Autorin schon lange persönlich kennt und mit ihren Texten sozusagen mitschwingen kann.  So hat man das Gefühl, Ulitzkaja selber hätte dieses Buch auf Deutsch geschrieben. Und es dringt in einen ein, man kann sich nicht losreißen davon.

Schon das erste Buch, das ich von dieser Autorin las – „Sonetschka“ –, hat mich an Anton Tschechows Erzählkunst erinnert, und dieser Eindruck bleibt. „Medea und ihre Kinder“ brachte mir dann ein Geschenk von Freiheit. Wie die Autorin da Beziehungen zwischen Männern und Frauen geschildert hat, die frei von Eifersucht, aber voller Zuneigung sind, das hat auch damit zu tun, dass sie selber dreimal verheiratet war und jegliche verunglimpfende Einstellung zu früheren Partnern und ihren Familien vermieden hat.

Der neue Erzählungsband beginnt mit „Drache und Phönix“. Mussja, eine Armenierin, die eine russische Schule besucht hatte, und Sarifa, eine Aserbaidshanerin mit islamischer Verwandtschaft, lieben einander so zärtlich, dass Mussja am liebsten an Stelle der todkranken Sarifa sterben möchte. Und sie ruft eine armenische Hexe an, die einen Seelentausch verspricht. Vergeblich. Rätselhaft bleibt, wie sowas, später im Band, tatsächlich gelingt. Da hilft eine tief religiöse Frau ihrer Schwiegertochter, die sie eigentlich nicht leiden konnte. Aber zwischen Mussja und Sarifa wird eine so tiefe Liebe beschrieben, die über ihren Tod hinaus bleibt.

Nächstes Jahr wird Ljudmila Ulitzkaja achtzig. Sie hat schon eine Brustkrebserkrankung hinter sich, worüber sie auch geschrieben hat. Die Sorge, womöglich einmal pflegebedürftig zu werden, quält wohl nicht nur Alissa aus der Titelgeschichte. Ein starkes Schlafmittel, um selbstbestimmt zu bleiben? Sie wendet sich an einen Arzt, und dann kommt doch alles anders als gedacht. Nicht nur in „Alissa kauft ihren Tod“, auch in anderen Geschichten dieses Bandes, ist das Unausweichliche präsent und wird zugleich mit dem Unwägbaren, dem Unerwarteten konfrontiert.

Du kannst nicht wissen, wie alles kommt, scheint uns die Autorin zu sagen. Mit einem schalkhaften Lächeln in den Augenwinkeln, mit einem hintergründigen Witz, der mit allgegenwärtigen Ängsten – wovor auch immer – versöhnt. Du kannst nichts vorausplanen. Lebe im Augenblick und vergiss nicht: Der Sinn deines Lebens ist auch der andere Mensch.

Verbundenheit, vornehmlich unter Frauen: Schon mit dem Prolog „Freundinnen“ öffnet sich ein weibliches Universum. Jede von ihnen eine Welt für sich. Es ist Ulitzkajas Art, jegliche Eigenheiten zu achten gegen jegliche Normierung. Toleranz, Mitgefühl. Sie hat einen besonderen Sinn für die Details menschlicher Schicksale. Andere Schriftsteller erzählen zweckgerichteter, verlangen von den literarischen Gestalten, dass sie ihren künstlerischen Zielen  dienstbar sind. Hier aber dominiert das Interesse für die Vielfältigkeit persönlicher Lebenswege. Weil die Gestalten sich sozusagen nicht gängeln lassen und die Autorin das auch nicht versucht, kann auf den Leser ein erhebendes Gefühl überströmen: Selbstständigkeit, Freiheit. Alles ist möglich. Nichts Menschliches ist dieser Autorin fremd. 

Zwanzig Erzählungen und sechs mal sieben Miniaturen: Aus jedem Text hätte ein ganzer Roman werden können. So viel Lebensstoff. Man kann sich gar nicht vorstellen, dass dies auch ausgedacht sein könnte. Ljudmila Ulitzkaja ist eine lebensweise Frau, in ihrem Denken beweglich, verwirft sie  Dogmen und Konventionen. 1943 in Baschkirien geboren, wuchs sie in Moskau in einer jüdischen Familie auf, absolvierte ein Biologiestudium und arbeitete ab 1967 als Genetikerin am Akademie-Institut in Moskau, wurde aber wegen der illegalen Abschrift und Verbreitung von Samisdat-Literatur entlassen. Danach war sie zwei Jahre am Jüdischen Kammermusiktheater als literarische Beraterin tätig, bevor sie sich als freischaffende Autorin und Publizistin etablieren konnte. Seit 1992 hat sie vierzehn Bücher auch auf Deutsch veröffentlicht, viele von Ganna Maria Braungardt übersetzt. Dass sie seit einigen Jahren schon als Anwärterin auf den Literaturnobelpreis gilt, ist nur gerecht.

Eine russische Autorin, gerade jetzt? Das Nobelpreiskomitee könnte ihr die vehemente öffentliche Ablehnung des russischen Einmarschs in der Ukraine zugutehalten. Aus Ulitzkajas Sicht kann sich die Stärke eines Staates nicht durch geopolitischen Einfluss, militärische und wirtschaftliche Macht definieren, sondern nur dadurch, ob er seinen Bürgern ein gutes Leben ermöglicht.  Dabei denkt sie wohl an die Ärmsten und Benachteiligten, aber fühlt sich in ihrem Wesen doch den Traditionen der russischen „Intelligenzija“ zugehörig, diesem Geistesadel, der seit dem 19. Jahrhundert in Russland über ein besonders hohes Prestige verfügt, eben weil sich die „Intelligenzija“ stellvertretend für die vielen Menschen ohne Stimme als „Gewissen der Nation“ verstand. Es sei eine „Art Orden“ gewesen, hat sie einmal gesagt, „eine Loge, eine intellektuelle Gemeinschaft … Ihre charakteristischen Eigenschaften waren sozialer Altruismus, Opferbereitschaft, Dienst an der Gesellschaft, ein besonderer Ehrenkodex.“ Dieser gesamtgesellschaftliche Anspruch, der sich dann auch in der Bewegung der sowjetischen Dissidenten äußerte, hatte freilich immer auch etwas Abgehobenes gegenüber der Lebenswirklichkeit der russischen Mehrheit. Und gerade jetzt, da russische Politik auf Patriotismus setzt, sich in der Behauptung nationaler Interessen vom Westen absetzt, hat sich, was einst eine gesellschaftliche Utopie war, notgedrungen aufs Private zurückgezogen.

„Es gibt keine Staatsmacht, die ich lieben würde“, sagte Ulitzkaja in einem Interview. Sie ist eine Weltbürgerin, was auch in diesem Band deutlich wird. „Lilja“ aus „Die Ausländerin“ heiratet einen Mathematiker aus dem Irak und wird in London heimisch. Die Schwestern Lidija und Nina folgen den Spuren ihrer Mutter in einem italienischen Dorf („Gesegnet seien…“). In der Erzählung „Russische Frauen“ gibt es ein Besäufnis in New York, eine erotische Begegnung und eine erschreckende Entdeckung. In „Züü-rich“ schafft es die Russin Lidija mit erstaunlicher Zielstrebigkeit tatsächlich dorthin, indem sie sich einen Schweizer angelt. Der allerdings …

Manchmal, wie in „Aqua Allegoria“, „Ein Mensch in Gebirgslandschaft“, „Awa“ oder „Die Autopsie“ mischt sich Phantastisches ein. Oder ist dies auch ein Mögliches? Das soll offen bleiben. Dass viel mehr möglich ist, als wir denken, aus diesem Gedanken bezieht die Autorin doch ihre heitere Gelassenheit.

So geht von dieser durchaus spannenden Lektüre zugleich etwas Beruhigendes aus. Da haben mir besonders auch die „Sechs mal sieben Miniaturen“ – über Weltuntergänge, Tode, Geburten, Krankheiten, Zwillingspaare, Ehepaare viel Vergnügen gemacht, weil sie mir vor Augen führen, wie launisch das Schicksal ist, wie viel Überraschendes es bereithält, wenn wir meinen, uns einen Reim darauf gemacht zu haben. Alles ist möglich. Warum sollen zum Beispiel zwei adoptierte Geschwister nicht zu Eltern werden? Ein Freiraum öffnet sich vor meinen Augen, von Weisheit, Güte und Mitgefühl durchströmt. „Wozu das alles“ hieß das Buch des jungen Philosophen Christian Uhle, das ich euch in meinem Podcast am 14. Juli vorgestellt habe. Auf andere Weise versucht auch Ljudmila Ulitzkaja eine Antwort auf diese Frage.    

Ljudmila Ulitzkaja: Alissa kauft ihren Tod. Erzählungen. Aus dem Russischen von Ganna-Maria Braungardt. Hanser, 304 S., geb., 25 €.

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