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Auf einem gemeinsamen Kontinent
„Wie umgehen mit dem Ukrainekrieg?“, fragt Stefan Bollinger in seinem Buch „Die Russen kommen“
Von Irmtraud Gutschke
Der Krieg in der Ukraine zerreißt den eurasischen Kontinent und er spaltet die Gemüter. Die verbreitete Meinung zum russischen Angriff heißt ja Verurteilung. Wenn ich dem muss ich ein Stück weit zustimme, hat das ganz egoistische Gründen. Für uns in Deutschland war es vorher schlichtweg besser. Eine Krise, die es lange schon gab, hat sich vertieft. Welche Folgen sich daraus ergeben, ist noch nicht absehbar. Wie sich Deutschland indes in diesen Krieg hineinziehen ließ durch Waffenlieferungen und Sanktionen auf Teufel komm raus, ist unverantwortlich gegenüber der eigenen Bevölkerung.
Aber was ändern Meinungen am Lauf der Dinge? Und was ist der Lauf der Dinge?
So brisant wie das Thema ist, könnte man meinen, dass der Markt überschwemmt würde von Büchern zum Ukraine-Konflikt. Dass sich viele Wissenschaftler und Publizisten, die sich in Medien äußern, mit Büchern zurückhalten, hat einen einfachen Grund. Wenn sie jetzt an einem Buch zu arbeiten beginnen, das vielleicht im nächsten Frühjahr herauskommt, wissen sie nicht, wie dann die Lage ist. Zieht sich der Krieg noch hin oder gibt es einen Friedensschluss? Wenn ja, zu welchen Konditionen? Dass man schwer ein Experiment protokollieren kann, dessen Reaktion noch gar nicht stattgefunden hat, zitiert der Politikwissenschaftler Dr. sc. Stefan Bollinger den bekannten französischen Historiker Marc Bloch. Nur durch eine Untersuchung der Vergangenheit könne man das Gegenwärtige verstehen.
Er hat sein Buch provokant „Die Russen kommen!“ genannt, anspielend auf die Ängste und Abwehrkämpfe, die es in der alten Bundesrepublik gegenüber der Sowjetunion und eben – den Russen – gab. Die DDR hingegen gehörte zum sowjetischen Imperium, das am Ende scheiterte, weil die ökonomische Leistungsfähigkeit mit der des Kapitalismus nicht Schritt halten konnte. Und weil es einen Kalten Krieg der Systeme gab, in dem die Sowjetunion aus vielerlei Gründen unterlag.
Die Russen kommen? Nun, so wie 1945 wird es nicht sein. „Wie umgehen mit dem Ukrainekrieg? Über deutsche Hysterie und deren Ursachen“ – der Untertitel des Buches verspricht viel. Gleich zu Beginn gibt es eine wichtige Aussage: Es ist eben nicht nur eine Auseinandersetzung zwischen zwei Staaten. Auf dem Boden der Ukraine kommen sich Großmächte ins Gehege, die die kapitalistische Welt neu unter sich aufteilen bzw. ihre Besitzstände zu wahren suchen. Nachdem die Sowjetunion zerfiel, weil Gorbatschow die Waffen streckte, hat es die Chance auf eine europäische Friedensordnung gegeben. Da erinnert Stefan Bollinger wie andere Autoren an die Charta von Paris. Aber eine gemeinsame Sicherheitsarchitektur mit der Sowjetunion hätte der NATO in Europa ein Standbein genommen, und eine große Wirtschaftszone von Lissabon bis Wladiwostok hätte US-amerikanischen Interessen Konkurrenz gemacht.
„Die folgenden zwei Jahrzehnte wurden durch Kriege und Strafexpeditionen der USA und ihrer NATO-Verbündeten bestimmt“, schreibt Bollinger. „Die nun monopolare Welt wurde vom Weltgendarm USA diszipliniert, und nebenbei wurden die Überreste realsozialistischer Staatskonstruktionen abgeräumt. Mit dem 11. September 2001 fand man im Islamismus einen Gegner, der eigene Stärke und Vorgehen rechtfertigte, um zu sichern, dass die USA und ihr Machtbereich blieben bzw. der Einfluss ausgedehnt wurde. Der 2. Golfkrieg 1991, der Jugoslawienkrieg 1999, die Intervention in Afghanistan 2001, der Irakkrieg 2003, die „Pazifizierung“ Libyens 2011 waren Elemente einer Kriegsstrategie, assistiert, ergänzt, gelegentlich auch konterkariert durch Kriege Israels, Saudi-Arabiens usw.
Für die beiden mit den USA konkurrierenden Großmächte Russland und China schienen wirtschaftliche Einbindung und demokratische Erziehung auszureichen, wobei das daniederliegende Russland für diverse Operationen bestens geeignet schien: als Spielwiese für Wahlmanipulationen (legendär die Wahlkampagne Jelzins 1996), für wirtschaftliche Erpressung , für Denuklearisierung, für eine Politik begrenzter militärischer Konflikte auf den Trümmern eines multinationalen Staates und für den Export westlicher Demokratie mittels Farbrevolutionen (Rosen-Revolution in Georgien 2003, Orangen-Revolution 2004 in der Ukraine, Tulpen-Revolution in Kirgisien 2005); aber auch Zedern-Revolution 2005 in Libanon, Regenschirme-Bewegung in Hongkong 2014, die Proteste unter der Pahonja, dem historischen Wappenschild von Belarus, 2020 usw.“
Weiter im Zitat: „Mit der Machtübernahme durch Putin und dem beginnenden Wiederaufbau des russischen Staates, seiner Wirtschaft und vor allem der Armee, schwand die Option, Russland vollständig in die ‚regelbasierte internationale Ordnung‘ einzubinden. In der Folge fand Russland zu national geordneten Verhältnissen zurück, und auch auf der internationalen Ebene – vor allem mit dem Engagement in Syrien – trat das Land wieder in Erscheinung. Diese Veränderungen lassen sich durchaus als eine schleichende ‚Zeitenwende‘ sehen, die vom Wiedererstarken Russlands und der zunehmenden Konfrontationsbereitschaft Moskaus und Washingtons geprägt war und ist.“
Das ist, wie der Autor deutlich macht, keine Systemauseinandersetzung mehr, sondern gehört zu einem imperialistischen Zeitalter. Durch diesen Krieg „werden staatliche Einflusssphären und Grenzen von Groß- und Mittelmächten sich verändern“, prognostiziert er, was ich mir noch gar nicht vorstellen will. „Und das vermutlich nicht nur in Osteuropa.“ Da beleuchtet er ausführlich den Meinungsstreit innerhalb der Linken, geht auf Marx, Engels , Lenin, Kautsky ein, charakterisiert die Spezifik des russischen Kapitalismus und den in anderen aufstrebenden Ländern, die sich von Washington nicht mehr an die Kandare nehmen lassen wollen.
Vielen mag nicht bekannt sein, dass es in den Kriegen des 20. Jahrhunderts immer wieder um die Ukraine gegangen ist? Der US-amerikanische Politologe und Sicherheitsberater Zbigniew Brzezinski hat die Ukraine als geopolitischen Dreh- und Angelpunkt bezeichnet, „weil ihre bloße Existenz als unabhängiger Staat zur Umwandlung Russlands beiträgt. Ohne die Ukraine ist Russland kein eurasisches Reich mehr“, würde zu einem asiatischen Reich werden. Da überlege ich, ob die westlichen Sanktionen, die man ja als Wirtschaftskrieg bezeichnen muss, genau auch das bezwecken. Das ökonomische Geflecht auf dem eurasischen Kontinent wird zerrissen, und Russland macht nun aus der Not eine Tugend, indem es sich demonstrativ vom Westen abkehrt und nach Osten und Süden orientiert, wo man Anmaßung und Einmischung der USA schon lange mit Unmut sieht.
Schaut man sich die Weltkarte an, ist der „Westen“ nur ein kleiner Bereich. Russland hingegen ist keineswegs isoliert. Viel mehr Länder, als man hier weiß, haben politisch und ökonomisch ebenso Interesse an einer multipolaren Weltordnung. Vor allem China, wo man mit konfuzianischer Gelassenheit beobachtet, wie sich Russland und die USA bekriegen, und dabei zu Russland beste Beziehungen pflegt.
Ausführlich geht Stefan Bollinger noch auf einen anderen, einen historischen Aspekt ein. „Russland will sein Umfeld – wegen des Kriegstraumas von 1941 – unter Kontrolle bekommen.“ Es hatte verheerende Folgen, dass Stalin sich damals auf den Nichtangriffspakt mit Deutschland verließ. So wie, ich füge hinzu, sich Gorbatschow auf die mündliche Zusage verließ, dass sich die NATO nicht nach Osten ausdehnen würde, und der Auflösung des Warschauer Pakts den Weg ebnete. Er streckte die Waffen in der Hoffnung, dass die andere Seite es ihm gleich tun würde. Doch die sah darin nur eine Schwäche. Mit den baltischen Staaten rückte die NATO an die russischen Grenzen heran.
Moldawien, Georgien, Ukraine sollten irgendwann folgen. In wie kurzer Zeit könnten NATO-Raketen Moskau treffen? Die USA wären weit weg … Zudem, es ist in der Öffentlichkeit fast vergessen, hat es seit 2014 einen opferreichen Krieg gegen die selbsternannten Republiken Donezk und Lugansk gegeben, wo viele ethnische Russen leben, statt wie im Abkommen „Minsk II“ vereinbart, ihnen innerhalb der Ukraine gewissen Autonomie zu gewähren. Wäre das geschehen, hätte die Ukraine nicht den Beitritt zu EU und NATO sogar in der Verfassung verankert, unterstützt von einer nationalistischen Propaganda, hätte der Einmarsch im Februar dieses Jahres nicht stattgefunden. Unmittelbare Auslöser waren die Ankündigungen Selenskyjs, die Krim militärisch zurückerobern zu wollen und Atomwaffen herstellen zu können.
Es ist ein ungemein interessantes und vielschichtiges Buch. Da geht es um den Ersten Weltkrieg, den Raubfrieden von Brest-Litowsk, den Vertrag von Rapallo, den von Deutschland gebrochenen Nichtangriffspakt, die Wege zur deutschen Einheit und immer wieder um heutige Geschichtspolitik. Dem Autor blutet das Herz, wie reaktionäre Narrative aus dunkler deutscher Vergangenheit wieder hochkommen. Ein Stellvertreterkrieg, in dem die Ukraine zum Opfer gebracht wird und der letztlich auch uns trifft: Europa und die Deutschen haben sich zur Kriegspartei machen lassen. Sie werden, so meine Meinung, zusammen mit der Ukraine die großen Verlierer sein. Stefan Bollinger zitiert Egon Bahr: Für Deutschland sei Amerika „unverzichtbar“, aber Russland sei „unverrückbar“.
Stefan Bollinger: Die Russen kommen! Wie umgehen mit dem Ukrainekrieg? Über deutsche Hysterie und deren Ursachen. Verlag am Park, 240 S., br., 16 €.