Podcast: https://www.nd-aktuell.de/podcasts/buecherberge
Rezension im „Freitag“: https://www.freitag.de/autoren/der-freitag/neuer-krimi-von-fabio-stassi-labyrinth-aus-buechern
Morde, Bücher und wuchernde Rätsel
Fabio Stasi hat einen Detektiv erfunden, der einem eigenartigen Beruf nachgeht: Bibliotherapeut
Irmtraud Gutschke
Ich wurde neugierig auf das Buch, will der Detektiv hier einem eigenartigen Beruf nachgeht: Bibliotherapeut. Das wäre auch was für mich, dachte ich. Anderen Leuten Bücher empfehlen, die ihnen in ihrer persönlichen Schwierigkeiten helfen könnten. Am Schluss des Bandes gibt es sogar eine Liste solcher „literarischer Heilmittel“.
Vince Corso wollte ja eigentlich gar kein Detektiv sein, so wie er in seiner Gedankenwelt herumtaumelt, fehlt es ihm dazu an der nötigen Tatkraft. Am 29. Juni 2016, so beginnt seine Geschichte, hatte er von einem Schwarm Nachtfalter geträumt, der die Straßen Roms heimsuchte. Ein an sich unwichtiges Detail, doch blieb es ihm im Sinn, wenn er später die Ereignisse jenes Tages rekapitulierte. Zum Feinkostmarkt am Bahnhof Termini war er ohne seinen Hund gegangen. Dass er bei seiner Rückkehr eine graue Pfote hinter dem Sofa hervorschauen sah, machte die Verwüstung der Wohnung zweitrangig. Djangos Maul voller Speichel, der Bauch gebläht, Blut lief ihm aus der Nase. Vergiftet. Fast zwei Wochen lang würde Vince Corso Stunde um Stunde in der Tierarztpraxis verbringen, wo Django im künstlichen Koma lag. Die übrige Zeit wird er irritierende Dinge erleben. Zum Beispiel sieht er einen abgetrennten Kopf über die Straße rollen. Ein teuflischer Unfall mit einer Straßenbahn – da denke doch ich sofort an Bulgakows Roman „Meister und Margarita“.
Dies ist kein Krimi von der klassisch britischen Art und auch keiner von der US-amerikanischen „Hard boiled“-Sorte, sondern einer voller wuchernder Rätsel, an denen Fabio Stassi selbst seine Freude hatte. Er ist, wie man merkt, ein vielbelesener Mann, wobei ja gerade Viellesern Einzelheiten oft aus dem Gedächtnis verlieren. Stassi aber lässt uns mit Vince Corso nicht nur in die quirlige Atmosphäre Roms eintauchen, sondern auch in das Gemüt eines Menschen, der detailversessen im Gelesenen lebt. Wie traumverloren in Gedanken und dann wieder hellwach für etwas, das andere übersehen – diese seltsam gespaltene Wahrnehmung kennt der Autor wohl selbst.
Vince Corso als „Bibliotherapeut“ hilft Menschen mit ihren Problemen, indem er jedem die passende Lektüre empfiehlt. Doch braucht er nicht auch selber Hilfe? Wieso schreibt er Briefe an seinen Vater, von dem er gar nichts weiß? Warum lässt er Frauen nur kurzzeitig in sein Leben? Und ist er womöglich gar in die Morde involviert, die in seiner Nähe geschahen? Was für ein Glück, dass der Commissario ihn beschatten lässt …
Auf dem Buchumschlag ist indes ein Blinder abgebildet. Und der Text beginnt mit einem „Epilog“: Am 16. September 1959 sehen wir einen Jungen in ein Buch vertieft – „Der seltsame Fall des Dr. Jekyll und Mr. Hyde“ von Robert Louis Stevenson, wie wir später erfahren. Ein Knarren stört ihn auf. Aus dem Wohnzimmer kommt es nicht, die Schlafzimmertür ist verschlossen. Später wird der zurückkehrende Vater den Jungen im Flur mit ausgestochenen Augen finden …
Was das mit Vince Corso zu tun hat, den wir ja minutiös bis zum 15. Juli 2016 begleiten? In der Tierarztpraxis hat ein Blinder ein Buch liegen lassen, und Corso läuft ihm hinterher. Mal scheint er den Mann im Straßengewirr entdeckt zu haben, dann wieder sieht er sich vielen Blinden gegenüber und gerät in die düsteren Gewölbe unter der Kirche Santa Maria Maggiore … Ein spannendes Rätselspiel, bei dem man sich bis fast zum Schluss nicht vorstellen kann, wie der Autor es auflösen will. Dass Vince Corso seinen Hund zurückbekommt, wünscht man sich. „Dass die wahre Hauptfigur eines jeden Romans sein Leser ist“, stimmt es, was der Blinde sagt? Tatsächlich werden ja literarische Texte erst lebendig, wenn sie gelesen werden. Mehr noch: Sie werden lebendig auf unterschiedliche Weise, verändern sich gleichsam mit den geistigen Welten ihrer Leserinnen und Leser. Können akzeptiert und abgelehnt werden, können bestätigen und widersprechen. Lesen bereichert in einer Weise, die die meisten kaum zu benennen vermögen.
Fabio Stassi: Ich töte wen ich will. Kriminalroman. Aus dem Italienischen von Annette Kopetzki. Edition CONVERSO, 304 S., geb., 20 €.