„Das Land geht vor die Hunde“
Von Irmtraud Gutschke
Als beklemmend aktuell preist der Residenz Verlag den Roman an, und man denkt beim Lesen sofort an den Krieg in der Ukraine. Der hat ja tatsächlich viel früher begonnen als mit dem russischen Einmarsch am 24. Februar 2022. Seit 2014, als die Republiken Donezk und Lugansk sich für unabhängig erklärten und die Krim per Referendum sogar Russland einverleibt wurde, toben bewaffnete Auseinandersetzungen. Vom Westen kaum zur Kenntnis genommen, hat die ukrainische Armee den Abspaltungen nicht untätig zugesehen. Aus den Gebieten Donezk und Lugansk wurden auch Gebiete zurückgeholt, und Präsident Selenskyj versprach gleiches für die Krim. Das hat sich Russland nicht gefallen lassen …
„Paul lebt mit seiner Familie in einer vom Bürgerkrieg heruntergewirtschafteten Stadt am Meer“, sagt der Klappentext. Vielleicht Mariupol? „Nach einer wahren Begebenheit“ verspricht der Untertitel des Romans, dem man indes seine Allgemeingültigkeit lassen sollte. Vladimir Vertlib ist 1966 in Leningrad geboren, emigrierte als Kind mit seiner Familie aus Russland, lebte an verschiedenen Orten der Welt und gilt heute als „österreichische Schriftsteller russisch-jüdischer Herkunft“. Die Frage nach der jüdischen Identität, die ihn in früheren Büchern beschäftigte, spielt unterschwellig auch in dieses neue hinein. Abfällig spricht Paul von dem Musiker Katz, beiläufig erwähnt er, dass es in der Stadt einst ein jüdisches Viertel gab „La-alot“, „das Viertel der 39 Bethäuser und Synagogen“. Doch „während des letzten Krieges“ seien die Juden „verfolgt, vertrieben und ermordet “ worden. Zuerst hätten „Nichtjuden die verlassenen Häuser in Besitz“ genommen, dann, als sie abgewohnt waren, zogen andere ein. Mit feiner Ironie ist beschrieben, wie Paul dort Abdul und Abdullah um Hilfe bittet. Weshalb? Da muss ich wohl von Anfang an erzählen.
Es ist, wie gesagt, Bürgerkrieg. Die „Terroristen“ nennen sich „Freiheitskämpfer“ und sind offensichtlich gerade in die Stadt einmarschiert. Pauls Tochter Lena fragt, ob sie nun nicht mehr zur Schule gehen muss. „Lisas Mutter sagt, dass wir alles neu werden lernen müssen, wenn die Terroristen einmarschiert sind.“ Die Familie nimmt es erst einmal recht gelassen. Dann klopft es an die Tür. Uniformierte führen Paul ab. Das ist aber nicht die Geheimpolizei, sondern ein „Doktor Boris Lupowitsch“ verhört ihn, Herausgeber mehrerer Online-Zeitschriften. Gegen ihn hat Paul Hasskommentare losgelassen. Warum? „Aus Dummheit. Weil ich blöd war“, sagt er nun, und es stimmt vielleicht sogar. Paul ist arbeitslos und hat sich gelangweilt im Netz herumgetrieben. Nun pinkelt er sich ein voller Angst, weil er nicht weiß, was ihm nun geschehen wird. Das haben die Kerle auf Video aufgenommen und ins Netzt gestellt. Die peinliche Szene wird massenhaft auf youtube angeklickt, sogar im Ausland verbreitet. Und da sollen Abdul und Abdullah Abhilfe schaffen, „Sie sind bei A & A, den großen Manipulatoren.“
Aber damit sind Pauls Schrecken noch längst nicht zu Ende. Im Gegenteil, es kommt noch richtig schlimm. Wenn es nicht so schlimm wäre, könnte man Vladimir Vertlibs Erzählen witzig nennen. Man amüsiert sich beim Lesen königlich und erschrickt über sich selbst. Boris Lupowitsch wird im Fernsehen als General der Befreiungsarmee, Kommandeur der gesamten Südfront, provisorischer Chef der Stadtverwaltung und was sonst noch alles vorgestellt. In seiner Ansprache wendet er sich gegen die „faschistische Clique in der Hauptstadt, den korrupten Präsidenten und seine Unterstützer“ – da denkt man nun wirklich an die Ukraine, fragt sich aber, ob den „prorussischen Separatisten“, wie sie hierzulande gerne genannt werden, tatsächlich die vielen Engstirnigkeiten eigen sind, die hier eine ganze Seite füllen, oder ob sie nicht hauptsächlich die Bindung zu Russland wollen. Man erinnere sich: Sie haben ihre Republiken 2014 „Neurussland“ genannt, bekamen aber den Anschluss an Russland nicht, wie sie es wollten.
Ein „Parabel auf den Irrwitz zeitgenössischer Politik“, lobt der Verlag. Man darf den Roman wirklich nicht eins zu eins auf die Ukraine beziehen, obwohl es da viele treffende Sätze gibt. Der Staat sei „erschaffen worden, um die Bedürfnisse der Eliten zu befriedigen“, sagt Herr Katz. „In einem Punkt sind sich Loyalisten und Rebellen, Linke und Rechte, Islamisten und Faschisten einig“, heißt es viele Seiten später. „Das Land geht vor die Hunde.“ Im wahrsten Sinne des Wortes, denn „seit ewigen Zeiten“ herrscht eine Hundeplage. Ein österreichischer Fernsehkorrespondent soll im Stadtpark von einem Krokodil gefressen worden sein. Einige Tiere des Zoos waren der Evakuierung entkommen. Irgendwann steht ein Zebra vor dem Haus …
Skurril und makaber ist das alles, während die Stadt unter Beschuss steht. Täglich gibt es Tote und Verletzte. Und schließlich sind die Regierungstruppen wieder da, gefolgt von drei Divisionen des Nationalen Sicherheitsdiensts. Und wieder hämmert es bei Paul an der Tür…
Vladimir Vertlib: Zebra im Krieg. Roman. Residenz Verlag, 287 S., geb., 24 €.