Willkommen in meinem Literatursalon
Irmtraud_Gutschke

Lesen macht glücklich, weil es uns sagt, wer wir sind und wer wir sein wollen, weil wir über uns hinauswachsen, in fremder Haut erleben dürfen, was uns sonst verschlossen bliebe. Heutzutage scheinen wir ja in Informationen zu ertrinken und haben doch das Gefühl, dass uns Wichtiges fehlt. Was ich suche, sind Bücher, die in diesem Sinne nachdenklich machen, ja auch solche, von denen ein Leuchten ausgeht. Viele Jahrzehnte habe ich als Literaturredakteurin mit Hunderten, ja Tausenden von Texten zu tun gehabt, auch selber Bücher geschrieben. Die Neugier auf Neues will ich hier mit anderen teilen.

„literatursalon.online“: Stellen Sie sich vor, wir sind zusammen in einem schönen Saal, und Sie möchten von mir wissen, was sich zu lesen lohnt. Was interessiert Sie denn, frage ich zurück. Politische Sachbücher? Gute Romane und Erzählungen? Spannende Krimis? Bildbände, die man immer wieder betrachten möchte? Mit meiner Auswahl lade ich Sie zu Ihren eigenen Entdeckungen ein.

Irmtraud Gutschke

Wenn Sie mehr über mich erfahren wollen - meine Biografie, meine Bücher und Veranstaltungen - , schauen Sie auf meine Webseite www.irmtraud-gutschke.de

Sibylle Berg: RCE

„Versuch, die Welt zu retten“

Sibylle Bergs Roman „RCE“ ist ein Manifest der Empörung

Von Irmtraud Gutschke

Der Romantitel kann abschrecken. Das haben Marketingleute der Autorin wohl schon gesagt. Aber es ist der Folgeband von „GRM Brainfuck“ von 2019. Jener in Sepia, der neue in Rosa. Dick, schwer. Der Name der Bestsellerautorin reizt sofort, doch „Remote Code Execution“ habe ich erst nachschlagen müssen. Viele Rezensentinnen und Rezensenten, denen es womöglich ebenso ging, werden das verschweigen. Peinliche Wissenslücke? Sachverhalte gibt es, die weit peinlicher sind.

Remote Code Execution ermöglicht es, aus der Ferne durch Sicherheitslücken (im Betriebssystem und in Anwendungen) in fremde Systeme einzudringen, Malware auszuführen, gar die Systeme komplett zu übernehmen. Es sind Hackerangriffe, die unter dem Begriff Cyberkriminalität firmieren. Wie man die eigenen Geräte – PC, Laptop, Smartphones – durch entsprechende Software schützen könnte, überlegt man und vermutet, dass es im Ernstfall kaum ausreichen würde. Staaten, Armeen, Polizei und sonstige Institutionen geben viel Geld dafür aus. Dass Bergs Buch dort mancherorts genau gelesen wird, vermute ich. Es als staatsgefährdend einzustufen, davor schützt vielleicht das rosa Leinen und dass es „nur“ ein Roman ist. Außerdem ist unser Staat noch nicht so weit, solches zu tun.

Im Roman finden sich „im fortgeschrittenen Jahrtausend“ mehrere junge Leute zusammen, die man schon aus „GRM“ kennen konnte. Ein paar kommen hinzu. Hackerinnen und Hacker, die sich nicht nur bestens mit Computern auskennen, sondern auch Durchblick haben, was die Zustände in der Welt betrifft. Das vage Gefühl, dass da etwas schief läuft in unserer Welt, das Misstrauen, betrogen zu sein,  gewinnt in Sibylle Bergs Text eine zugespitzte Offensichtlichkeit, wie man sie sonst selten findet. Was in Medien zwar im Einzelnen immer wieder polemisch angesprochen, aber kaum im Zusammenhang gesehen wird, wird hier so grell gezeichnet, dass in manchen Rezensionen auch ein Zurückschrecken zu bemerken war. Die Misere des Gesundheitssystems, die Lage auf dem Arbeitsmarkt, die allgegenwärtige Bereicherung und Verarmung, Umweltprobleme bis hin zu Rassismus, Kolonialismus und Genderfragen erscheinen als das, was es ist: eine Systemkrise, die sich immer stärker aufbaut. „Die schreckliche Angst junger Leute, die sicher waren, in der letzten aller Zeiten zu leben“, lässt „die Freunde“ radikal werden.

„Versuch, die Welt zu retten“: Wer wäre da nicht gern dabei und fängt dann sofort schon an zu nörgeln, dass dies utopisch, ja naiv sei. Naiv bleibt es, wenn es nur Worte sind. Aber „die Freunde“ im Roman diskutieren ja nicht nur, sondern werden tätig. Ja, sie zeigen sogar, wie man es machen muss. Wer die öffentliche Meinung beherrscht, hat die Macht. Und umgekehrt. Es gilt also, die Meinungshoheit zu brechen. Das geht, wenn man Geld in die Hand nimmt (das lässt sich klauen). Eine RCE-App, eine kostenlose RCE-Zeitung sogar eine RCE-Serie entstehen. Dass Selenskyj auch durch seine Fernsehserie „Diener des Volkes“ die Wahl gewonnen hat, fällt mir ein. Stand nur der Oligarch Kolomojski dahinter?

Ben, Kemal, Maggy, Pavel, Rachel, hinzu kommen Pjotr, Marcel, Leo Freya, Karen, Nuria und viele, viele andere, manche auch anonym wie eine Geheimdienstmitarbeiterin, ein Literaturwissenschaftler, ein beherzter Mann, eine Neurowissenschaftlerin… Berg sagt, dass sie für den Roman mit über 100 WissenschaftlerInnnen und Nerds geredet, ihre Papers, Artikel und Bücher gelesen hat. Daraus hat sie ihren Text gebaut, der dann literarisch schwerlich zu einem Ganzen werden kann. Weil sie sich eben sehr viel vorgenommen hat: Eine bissige Bestandaufnahme neoliberaler Absurditäten, überbordend,  eklektisch. Ein Manifest der Empörung.

Szenenwechsel immer wieder. Es ist wie ein riesiges Puzzle, durch das man sich atemlos bewegt. Denn etwas soll, muss doch anders werden Wie? Diese Frage hält einen beim Lesen in Atem. Es scheint ein Countdown stattzufinden. Ein „Ereignis“ rückt immer näher.  Wenn das Vertrauen in das System irgendwann massenhaft zerstört ist, wird die Lage unübersichtlich. Chaotisch. Aber wenn das System gestürzt ist? Fangen dann die Schwierigkeiten nicht erst an?  „Fortsetzung folgt.“ So endet das Buch.

Sibylle Berg: RCE. #RemoteCodeExecution. Roman. Kiepenheuer & Witsch. 695 S., Leinen, 26 €.

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