Wir leben in einem kranken System
Martin Rücker analysiert die „fatalen Folgen deutscher Ernährungspolitik“
Von Irmtraud Gutschke
Dass das Essen in Schulen, Kliniken und Pflegeheimen oft miserabel ist, wer hat das nicht schon erlebt. Aber es kann sogar krank machen kann bzw. die Genesung verzögern. Martin Rücker zitiert eine Studie der deutschen Gesellschaft für Ernährung (DGE), die die gravierenden Folgen von Mangelernährung in Krankenhäusern ins Zentrum rückt. Daten von 767 Patient:inne in 48 deutschen Kliniken wurden ausgewertet. Rund 35 Prozent wurden als mangelernährt eingestuft. „Als mangelernährt gelten Untergewichtige, denen es an Kalorien fehlt, aber auch Menschen, die mit wichtigen Nährstoffen Eiweiß, Vitamine, Mineralien – kritisch unversorgt sind. Wobei die Mangelernährung oft schon bestand, bevor die Menschen in die Klinik kamen, aber sie wurde meist nicht beachtet und nicht therapiert. Interessant: 42 der stationär behandelten Covid-19 Patient.innen waren mangelernährt und sind zugleich diejenigen mit der höchsten Sterblichkeit.
Das Fazit überrascht nicht: „Was mit Essen zu tun hat, gilt an den Kliniken vor allem als Kostenfaktor.“ Daran wird immer mehr gespart. „Die Zahl der angebotenen Menülinien ist rückläufig, Snack-Automatn ersetzen cafeterien, Küchen werden reihenweise outgesourct…“ Die Situation in Pflegeheimen ist kaum besser. Mängel gibt es dort nicht nur bei der Qualität des Essens, sondern auch in der Art und Weise, wie es verbreicht wird.
Viele Einzelheiten hat der Autor dieses Buches in seinen investigativen Recherchen zusammengetragen. Dass es sich unterhaltsam liest, könnte man sagen, wenn das Thema nicht so ernst wäre. Der Staat ist weit entfernt davon, gesunde Lebensmittel zu fördern. das beginnt schon mit dem Zuviel an Zucker. „Um Übergewicht wirksam zhu bekämpfen, fordern maßgebliche Gesundheitsorganisationen daher in großer Eintracht … eine Zuckersteuer für Limonaden, eine leicht verständliche, verpflichtende Nährwertkennzeichnung und ein Verbot der an Kinder gerichteten Werbung für ungesunde Lebensmittel.“ Aber der Nutri-Score bleibt freiwillig. Und letztlich wird alles den Verbrauchern überlassen, die ja mündige Bürger sind. „Bemerkenswert eng ist die Lebensmittel- und Zuckerindustrie mit der Politik vernetzt“, schreibt Martin Rücker und weist das auch detailliert nach. Das geht bis hin zur gekauften Forschung.
Warum wir so wenig über Lebensmittel erfahren, warum Behörden vor dreckigen Küchen kapitulieren, warum es für Bauern und Uternehmen kaum lohnt, Klima und Tiere zu schützen – ganz einfach, weil es um Profit geht. Und das heißt Umverteilung von unten nach oben. Die einen verdienen, die anderen werden zur Kasse gebeten. Allgemein weiß man das ja, aber was Martin Rücker dazu an Einzelheiten zusammenträgt, müsste zu einem Aufschrei der Empörung führen. Wir leben in einem kranken System.
Martin Rücker: Ihr macht uns krank. Die fatalen Folgen deutscher Ernährungspolitik und die Macht der Lebensmittellobby. Econ Verlag, 336 S., geb., 22,99 €.