Willkommen in meinem Literatursalon
Irmtraud_Gutschke

Lesen macht glücklich, weil es uns sagt, wer wir sind und wer wir sein wollen, weil wir über uns hinauswachsen, in fremder Haut erleben dürfen, was uns sonst verschlossen bliebe. Heutzutage scheinen wir ja in Informationen zu ertrinken und haben doch das Gefühl, dass uns Wichtiges fehlt. Was ich suche, sind Bücher, die in diesem Sinne nachdenklich machen, ja auch solche, von denen ein Leuchten ausgeht. Viele Jahrzehnte habe ich als Literaturredakteurin mit Hunderten, ja Tausenden von Texten zu tun gehabt, auch selber Bücher geschrieben. Die Neugier auf Neues will ich hier mit anderen teilen.

„literatursalon.online“: Stellen Sie sich vor, wir sind zusammen in einem schönen Saal, und Sie möchten von mir wissen, was sich zu lesen lohnt. Was interessiert Sie denn, frage ich zurück. Politische Sachbücher? Gute Romane und Erzählungen? Spannende Krimis? Bildbände, die man immer wieder betrachten möchte? Mit meiner Auswahl lade ich Sie zu Ihren eigenen Entdeckungen ein.

Irmtraud Gutschke

Wenn Sie mehr über mich erfahren wollen - meine Biografie, meine Bücher und Veranstaltungen - , schauen Sie auf meine Webseite www.irmtraud-gutschke.de

Roger Melis: Die Ostdeutschen

Ärztin und Fischverkäuferin

„Die Ostdeutschen“ – der Fotograf Roger Melis zeichnet das Porträt eines untergegangene Landes

Von Irmtraud Gutschke

Ist es denn wirklich untergegangen? Die DDR existiert nicht mehr, aber der Osten tickt doch bis heute etwas anders als der Westen. Dazu hat es in den vergangenen Jahren zahlreiche Untersuchungen gegeben – von Daniela Dahn, Wolfgang Engler, Jana Hensel, Steffen Mau, um nur einige zu nennen. Und selbst wenn man all das gelesen hat, wecken die Fotos von Roger Melis ein ganz besonderes Gefühl: staunendes Erinnern für die einen und für die anderen vielleicht ein Nachempfinden, verbunden mit dem Gedanken, dass man es im Westen doch viel besser getroffen hat. Aber so einfach ist es nicht, würde ich sagen. Graue Häuserfassaden hat Roger Melis auch ins Bild gebracht, aber vor allem hat er Menschen ins Gesicht geschaut: Künstlerkolleginnen und -kollegen wie Gisela May, Irmtraud Morgner, Christa Wolf, Anna Seghers, Eva-Maria Hagen und Manfred Krug, aber auch den Mitgliedern einer Feldbaubrigade in der Uckermark. Ich sehe den Gestalter Reinhard Grabowitz wieder, der mir in seiner Wohnung Berlin-Prenzlauer Berg mal einen Ring angefertigt hat, und Frauen mit Kinderwagen, die von heute sein könnten.

„Die Ostdeutschen“ ist ein ambitionierter Titel. In seiner Vorbemerkung schlägt Herausgeber Mathias Bertram einen Bogen zu groß angelegten Gesellschaftsporträts wie Robert Franks „Die Amerikaner“ oder René Burris „Die Deutschen“. Von den 1960er Jahren bis zum 3. Oktober 1990 reicht der Blick. Am Schluss steht eine nächtliche Freudenfeier am Brandenburger Tor. Ja, auch das gab es, und es sollte nicht vergessen sein. Das Leben der Menschen ist immer ein eigenes im Unterschied zum jeweiligen Gesellschaftssystem. Vieles gab es, das sich in der DDR der staatlichen Lenkung entzog. Organisierte Kundgebungen und Rummelplätze bis hin zu einer privaten Performanceparty, die Roger Melis fotografierte. Das Künstlermilieu, in dem er sich bewegte, lebte mit eigenen Interessen und Bedürfnissen. Das ist ihm wohl klar gewesen, und er hat absichtsvoll die Nähe zu anderen Lebenswelten gesucht. Fotos aus Fabrikhallen und von der Ernte mochten damals vom Thema her nichts Besonderes gewesen sein, allerdings wohl in der Qualität, wie sie Roger Melis zu bieten hatte. Betrachtet man sie heute, kommt einem zu Bewusstsein, dass solcherlei Bilder fast ganz aus dem öffentlichen Bewusstsein verschwunden sind. Die „Werktätigen“, wie es damals hieß, scheinen in die Unsichtbarkeit verbannt, wenn sie nicht gerade streiken. Rockmusiker findet man immer mal wieder in den Medien. Aber Arbeiter im Stahlwerk oder in einer Autofabrik? Als ob sie als Personen uninteressant seien…

Der Soziologe Wolfgang Engler hat bezüglich der DDR von einer „arbeiterlichen Gesellschaft“ gesprochen, „nach oben gedeckelt“, hat sein Kollege Steffen Mau hinzugefügt. Selbstbewusst blickt einem auf Seite 150 eine Fischverkäuferin entgegen. Die Ärztin auf Seite 151 ist gerade bei einem offensichtlich wichtigen Telefongespräch. Es war selbstverständlich, dass Frauen berufstätig und dementsprechend geachtet waren. Es war eine Gesellschaft, die, ökonomisch mehr und mehr mit dem Rücken zur Wand, auf Gerechtigkeit aus war und Unterschiede zwischen sozialen Schichten lieber nivellieren als vertiefen wollte.

Roger Melis: Die Ostdeutschen. The East Germans. Herausgegeben von Mathias Bertram. Lehmstedt Verlag Leipzig. 224 S., geb., 24 €.

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