Was nie offenbar werden darf
Jan Costin Wagner rührt in seinen Krimis um Ben Neven an ein Tabu
Von Irmtraud Gutschke
Die Krimis dieses Autors sind eigentlich psychologische Romane, wobei sie alles bedienen, was gute Spannungsliteratur ausmacht. Auch in seinem neuen Buch, „Am roten Strand“, kommt uns die Handlung wie ein Film vor Augen. In kurzen gestochen klaren Sätzen wird in der Gegenwart erzählt. Kurze Kapitel sind mit den jeweiligen Gestalten überschrieben, deren Position wir beim Lesen einnehmen: Der jungen Frau Josy werden wir immer nur kurz begegnen, doch wissen wir damit schon mehr als das Ermittlerteam um Ben (Neven), das Fällen von Kindesmissbrauch auf der Spur ist. Im vorigen Roman, „Sommer bei Nacht“, hatte Ben den fünfjährigen Jannis gerettet, indem er seinen Entführer erschoss. Dazu muss er nun Maren Kramer von der „internen Ermittlung“ Rede und Antwort stehen. Bei ihr hatte er das Gefühl, dass sie alles begreift. War es womöglich auch sein Selbsthass, der ihn zur Pistole greifen ließ? Aber davon darf niemand erfahren.
Heimlich schaute sich der Polizist früher schon – mit Genuss – sicher gestellte Videoaufnahmen an. Nun werden wir erleben, dass er sogar einen Schritt weitergeht. Da blicken wir ins seine Seele, wo brennendes Schamgefühl und unerfüllbare Sehnsucht einen dauernden Kampf ausfechten. Wir sehen, wie ihn das zermürbt. Er würde aus dem Dienst geworfen, wenn nur etwas davon ans Licht kommen würde. Niemandem kann er das offenbaren, auch seiner Familie nicht. Dabei würde er es so gerne gestehen: „Ich mag keine Frauen, Svea, auch keine Männer, ich mag Jungs.“ Aber wie würde die Frau reagieren und wie seine geliebte Tochter?
„Knabenliebe“ heißt es in Bezug auf die griechische Antike, als Päderastie eine institutionalisierte also eine gesellschaftlich anerkannte Beziehungsform war. Heute zählt „Pädophilie“, wenn unterdrückt, zu den psychischen Gesundheitsstörungen und, wenn ausgeübt, als Verbrechen. Fachleute schätzen, dass etwa 250.000 Männer in Deutschland eine pädophile Hauptpräferenz haben. Die haben die Wahl: Sich als Kranke bekennen und sich mit Verhaltenspsychotherapie und Medikamenten behandeln zu lassen, die ihren Sexualtrieb unterdrücken, oder diesen heimlich auszuleben. Wie, das ist im Roman beschrieben, der Lesern unter dem Stichwort Kindesmissbrauch (ist es nicht gerade sehr modern?) Schauer über den Rücken treibt.
Zudem scheint jemand Selbstjustiz zu üben. Verdächtige werden ermordet, bevor sie verurteilt werden können. Muss die Polizei diese Männer nun etwa gar schützen? Dabei verbirgt sich doch hinter ihnen ein ganzes Netz von Männern, die Videos herstellen, austauschen und sich gegenseitig stützen. Was geschieht da? Man merkt, dass man darauf auch neugierig ist. Hin und hergerissen ist man beim Lesen zwischen Abscheu und einem Verständnis, dem man nicht stattgeben darf. Sexuelle Freiheit, gut, aber nicht in Bezug auf Kinder.
Es ist kühne und wohl auch nicht unumstrittene Idee des Autors, an die Spitze des Ermittlerteams einen Mann zu stellen, der für diese Leute viel Verständnis haben müsste, sie aber auch nicht schonen darf, und ihn mit einem anderen, Christian Sandner, zu flankieren, dessen Freundin Anne immer noch unter den Folgen einer Vergewaltigung leidet. Da wird einem beim Lesen eine Gewissheit genommen, die eigentlich zum Krimigenre gehört: dass der Ermittler sei per se der Gute ist, der die Welt in Ordnung bringt. Aber es ist auch anders als in manchen Fernsehkrimis, die uns immer öfter mit völlig kaputten Polizisten konfrontieren, sodass wir nur noch eine kaputte Welt vor Augen haben. Denn Ben hat ein Gewissen, sonst würde er sich nicht so quälen.
„Aus den schlimmstmöglichen Szenarien das rauszufiltern, was uns doch in die Lage versetzt, dem Leben zum Sieg zu verhelfen“, so hat der Autor einmal sein Credo umschrieben. Die Lektüre dieses Romans drückt nicht nieder, auch wenn sie irritiert und nachdenklich macht. Wobei ich zugeben muss, dass ich zu diesem Krimi gegriffen habe, weil die schwebende Poesie in Jan Costin Wagners Finnland-Krimis so mag. Wobei auch der Ermittler Kimmo Joentaa seinen Schmerz hatte, aber dieser betraf Frauen. Zunächst habe ich es, offen gestanden, bedauert, dass der in Frankfurt am Main lebende Schriftsteller und Musiker mit seinen literarischen Handlungsorten ins Hessische zurückgekehrt ist. Dabei haben seine Romane „Sommer bei Nacht“ und „Am roten Strand“ wegen ihres brisanten Themas wohl eine Sonderstellung in der deutschen Literatur.
Beide können auch für sich gelesen werden. Der Autor führt seine jeweiligen Geschichten zu einem befriedigenden Ende, so wie es in einem guten Krimi sein muss. Aber wie geht es mit Ben Neven weiter in seinem inneren Konflikt? Auch möchte man mehr über den pensionierten Polizisten Landmann erfahren, diesen lebensklugen Mann, der einst Bens Mentor war. Landmann treffen wir in tiefem Schmerz, Denn er hat seine Tochter Barbara durch Selbstmord verloren und kann nicht verstehen, warum sie ihm keinen Abschiedsbrief hinterlassen hat. Es könnte also gut sein, dass Jan Costin Wagner schon an einer Fortsetzung schreibt.
„Selten hat ein Roman ein so schwieriges und gesellschaftlich relevantes Thema so spannend, kompromisslos und aufwühlend behandelt“, wirbt der Verlag. Zu Recht.
Jan Costin Wagner: Am roten Strand. Galiani Berlin, 300 S., geb., 22 €.