Verhältnisse sind veränderbar
David Graeber und David Wengrow wollen Menschheitsgeschichte neu deuten
Von Irmtraud Gutschke
„Eine neue Geschichte der Welt“ – was für ein ehrgeiziges Unterfangen. Der inzwischen verstorbene Ethnologe David Graeber und der Archäologe David Wengrow haben in ihrem Band „Anfänge“ nichts weniger angestrebt, als landläufige Deutungen der Menschheitsgeschichte in Frage zu stellen. Sie zweifeln entschieden daran, dass ein freies Leben unter den Bedingungen relativer Gleichheit nur auf einer sehr frühen Stufe, bei den Jägern und Sammlern, möglich gewesen sein soll und mit dem Übergang zur Sesshaftigkeit sich Besitzstrukturen herausbildeten, die zugleich mit Macht verbunden waren. Gegen diese in ihren Augen vereinfachende Darstellung führen sie Untersuchungen ins Feld, denen zufolge alles viel differenzierter und widersprüchlicher war.
Das ist absolut nachvollziehbar. Nichts kann einfach so über einen Kamm geschoren werden. Verhältnisse konnten sich ändern und überhaupt hingen die Verhältnisse, die Beziehungen untereinander auch von den jeweiligen Gegebenheiten ab. Dass einige Archäologen heute die Ansicht vertreten, „menschliche Gesellschaften seien schon einige Tausend Jahre, bevor die Landwirtschaft eingeführt wurde, nach Status, Klassenzugehörigkeit und ererbter Macht eingeteilt worden“, wie es im Buch heißt, ist absolut plausibel, wenn man sich unter nomadisierenden mittelasiatischen Viehhirten umschaut, wo mit der Vorstellung verwandtschaftlicher Hilfe ein Ausbeutungsverhältnis kaschiert wurde, das andererseits auch die Pflicht zur Unterstützung Schwächerer beinhaltete. Zwischen dem ursprünglichen Gemeinwesen, wie es Friedrich Engels in „Der Ursprung der Familie, des Privateigentums und des Staates“ beschrieb (nur ein einziges Mal wird in diesem Buch kurz darauf hingewiesen) und einer ausgeprägten Feudalstruktur gibt es viele Übergänge. Insofern haben die beiden Autoren Recht: Vieles steht einer holzschnittartigen Deutung der Menschheitsgeschichte im Wege. Erste Städte können, wie die Autoren mutmaßen, auch ohne autoritäre Regierung entstanden sein. Doch die Versuchung war wohl immer groß, Anhäufung von Reichtum auch mit Macht zu verbinden.
Hervorzuheben ist an diesem Buch, dass jeglicher hochmütig eurozentristischen Haltung definitiv widersprochen wird. Was unsere fernen Vorfahren wussten und fühlten, können wir nur mutmaßen. Aus archäologischen Funden lassen sich Rückschlüsse ziehen, wie es hier ausführlich geschieht, doch muss man sich immer bewusst sein, dass bei ihrer Deutung auch aktuelle Bedürfnisse eine Rolle spielen. David Graeber wird vom Verlag als „bekennender Anarchist“ vorgestellt. Der Freiheitsgedanke ist dem Buch auf leuchtende Weise eingeschrieben. Wenn wir Menschen „uns den größten Teil unserer Geschichte fließend zwischen verschiedenen Sozialordnungen hin- und herbewegt haben, wenn wir regelmäßig Hierarchien aufgebaut und wieder abgebaut haben“ (im Buch wird das Beispiel Teotihuacán angeführt), bewegt die beiden Autoren die Frage: „‚Wie sind wir stecken geblieben?“
Die aufwendigen archäologischen und ethnologischen Untersuchungen – besonders interessant die Darstellungen ukrainischer Mega-Stätten 4100-3300 v.u.Z., wo sich keine Hinweise auf Kriege oder den Aufstieg sozialer Eliten finden –,-führen also letztlich zur Gegenwart, die wir in ihrem So-Sein nicht als zwangsläufig ansehen sollen. Verhältnisse sind veränderbar. Dazu soll dieses Buch eine Ermutigung sein.
David Graeber, David Wengrow: Anfänge. Eine neue Geschichte der Menschheit. Aus dem Amerikansichen von Henning Dedekind, Helmut Dierlamm, Andreas Thomsen. Klett-Cotta, 667 S., geb., 28 €.e