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„Der Erinnerungsfälscher“ von Abbas Khider geht unter die Haut
Von Irmtraud Gutschke
Said Al-Wahid sitzt im ICE zwischen Mainz und Berlin, als ihn sein Bruder anruft: „Unsere Mutter liegt im Krankenhaus. Der Arzt sagt, es wird nicht mehr lange dauern.“ Wie soll er so schnell nach Bagdad kommen? Zum Glück hat er seinen Reisepass dabei. Aber was wird ihn an der Grenze und bei seiner Familie erwarten? Nach Jahren in Deutschland, ist er immer noch einer, der „der Welt nicht traut“.
Abbas Khiders Roman „Der Erinnerungsfälscher“ stürzt in ein Wechselbad der Gefühle: Mal zieht uns Said an seine Seite, dann stößt er uns von sich weg. Da ging es mir beim Lesen zuweilen wie jener Frau Schulz aus Abbas Khiders Roman „Ohrfeige“ von 2016: In der deutschen Ausländerbehörde von einem Mann namens Karim Mensy an ihren Drehstuhl gefesselt, muss sie sich seine Erinnerungs- und Wuttirade anhören: Er sollte ihr seinen Asylpass abgeben, weil nach Saddam Husseins Sturz angeblich keine Gefahr mehr für ihn in Irak besteht. Eine Duldungsbescheinigung schließt indes keine Arbeitserlaubnis ein. „Aber Sie wissen ja besser als ich, wie Ihre komischen Gesetze funktionieren.“ – Dass wir das eben nicht so genau wissen, davon lebt auch der neue Roman.
Wie viele bürokratische Hürden hat Said überwinden müssen, wie viel Demütigendes hat er erlebt. Er hat studiert, ist Schriftsteller geworden, hat geheiratet und einen kleinen Sohn. Seine Frau Monica ist eine geborene Hoffmann. „Weiß ist sie. Kein Polizist würde sich trauen, sie grundlos auf der Straße nach ihrem Ausweis zu fragen.“ Sie lernt Arabisch, um die Welt ihres Mannes zu verstehen, was ganz wohl nicht gelingt. Und Said, heißt es im Roman, hat einen „Januskopf“ entwickelt. „Das eine Gesicht ist für alle sichtbar, zeigt sich allen, so wie sie es sich von ihm wünschen. Das andere Gesicht ist verschleiert, verborgen, rückwärtsgewandt, kauert allein und freiwillig eingesperrt.“ Leben zwischen zwei Kulturen – mit einem gespaltenen Ich.
Als er vor über 20 Jahren nach Deutschland kam, bekannte Abbas Khider in einem Interview, habe er nur drei Wörter gekannt: „Hitler, Scheiße und Lufthansa“. Nun veröffentlichte er bereits seinen siebenten Roman auf Deutsch. Autobiografisch? Dem widerspricht er vehement: Mit literarischen Mitteln wolle er seinen Gestalten ein Eigenleben geben. Das gelingt indes umso eindrücklicher, weil die fremden Erinnerungen in Bezug zu seinen eigenen stehen, die er nicht pur wiedergibt, sondern sozusagen „fälschen“ muss.
Wegen seiner Gedächtnislücken bekam Said von einem deutschen Arzt den Hinweis, sich an ein „Behandlungszentrum für Folteropfer“ zu wenden. „Dort könne man mit solchen Traumata gut umgehen. Typisch, dachte Said. Wenn ein Migrant mit etwas kommt, das man in Deutschland nicht begreift, nennt man es ‚Trauma‘. Was soll man tun, wenn das ganze Leben ein einziges Trauma ist?“ Um Asyl zu erhalten, muss in der Heimat Gefahr für Leib und Leben bestehen. Aber was wisst ihr denn vom Leben in Irak, ruft uns der Autor entgegen. Sein Erzählton macht ihn tatsächlich zu etwas Besonderem in der deutschen Literatur: Nicht klagend, sondern kraftvoll, sprachlich präzise, sarkastisch, selbstbewusst führt er uns vor Augen, wovor wir wegblicken wollen. Auf mich wirkte das schmale Buch auch deshalb so nachhaltig, weil es in mir weiterarbeitete: Während Said um Sicherheit und Gerechtigkeit für sich selber kämpft, denkt man auch an diejenigen, die er zurückgelassen hat.
In Vor- und Rückblenden bewegt sich der Roman. Ehe er seine Familie in Bagdad erreicht, fällt Said ein, wie sein Vater hingerichtet wurde, weil er Beamter im Verkehrsministerium von Saddam Hussein gewesen war, wie er als Sohn eines Verräters beschimpft wurde, die Mutter zur zweiten Frau des Onkels werden musste und dessen ältester Sohn seine Schwester bedrohte. Seine vierjährige Odyssee, um von dort wegzukommen, ist wieder hautnah. Was es alles für Umwege gibt, wie man in der Not Pässe kaufen kann und was später Schlimmes zu verdrängen ist! Manches erfahren wir, anderes müssen wir erraten.
Und wie wird er bei der Familie in Bagdad empfangen mit seinem deutschen Pass? Trifft er die Mutter noch an? Ein Schulkamerad sagt, dass er jetzt zu einer Miliz gehört, die sich „Armee des Erlösers“ nennt. Mit seinen langen Haaren solle Said besser zu Hause hocken und einen Schleier tragen. „Darf ich heute auf dem Dach übernachten… wie früher?“, fragt er die Schwester. „Bist du bescheuert?“, entgegnet der Bruder. „Bist du ein europäischer Orientalist geworden? … Versuch bitte abzuhauen, bevor der Flughafen geschlossen wird“.
Abbas Khider: Der Erinnerungsfälscher. Roman. Hanser, 125 S., geb., 19 €.