Dieses seltsame Leben
Die Schatzkammer des Alexander Kluge
Von Irmtraud Gutschke
Wieder kommt mir diese Erinnerung wie schon beim Band „Russland-Kontainer“ von Alexander Kluge: Ich habe mit meinem Vater seine Cousine besucht. Sie sitzen beim Kaffee und erlauben, dass ich auf den Dachboden steige. Vielleicht fünf bin ich und stehe in einer Schatzkammer: Kisten und Kartons – was mag nur alles darin sein? Staubteilchen tanzen im schräg hereinfallenden Sonnenlicht, und ich steche zwischen ungeahnten Schätze: Bücher, Fotos, Schreibutensilien, Briefmarken sogar. Kaum tragen konnte ich, was ich so gern mit nach Hause genommen hätte. Dabei war das Stöbern viel schöner als das Besitzen. Und es war eine Zeit, da man nicht viel hatte. Heute würde man sagen. Alles Müll!
Das ist so eine Episode, aus der dieser Schriftsteller ein funkelndes Kabinett stück gemacht hätte. Kleine Geschehnissen – selbst erlebt, angelesen oder bloß gehört – verwandelt er in zumeist auch kleine Texte, die ungewöhnlich eindringlich sind und irgendwie nachhallen. Irgendetwas ist da noch jenseits des Textes. So wie es bei Kluges Schwester Alexandra ist, die meint, ihre Vorfahren wären in einem Wanderzirkus gewesen. Davon ist nichts bekannt, aber weiß man’s? „Gleich neben unserer Haut führen wir ein weiteres Leben. Andernfalls wäre die grammatische Form des Konjunktivs überflüssig.“
So soll es sein. Möge es Schutzengel unterm Zirkusdach geben, und nicht nur dort. Denn wie anders wäre die „Überlistung der Schwerkraft“ möglich gewesen, als ein Arbeiter in Frankreich aus 130 Metern von einem Starkstrommast fiel und von einem anderen wenige Meter tiefer aufgefangen wurde. Wie konnte ein Automat, in „Der Wahrsager als Utopist“ eine Beziehung stiften? Eine „Kannibalen-Gruppe“, zusammengestellt von de Theater- und Showunternehmer Cunningham hat in Kluges Geburtsstadt Halberstadt tatsächlich gastiert. Im Band „Zirkus/ Kommentar“ finden sich Fotos der Aborigines, die Rudolf Virchow untersuchte. „Zirkustiere im Krieg“ eine schlimme Sache. Und „Der Brand des Elefantenhauses in Chicago“ ist so, dass die Dickhäuter an ihren Ketten rissen und sangen: „Wir vergessen nichts.“
„Haben die Coronaviren Individualität?“, fragt der Autor im „Buch der Kommentare“, das von der antiken Bibliothek in Alexandria über die mittelalterliche Scholastik, die Renaissance bis zur Philosophie von Jürgen Habermas und den „Akten von Ankara“ reicht, die zwei DDR-Spione auskundschaften sollten. „Viele Nachmittags- und Abendstunden arbeiten die Gefährten am Material. „Fehlt nur der Adressat für die Nachricht.“ Was Alexander Kluge da zusammengesucht (manchmal vielleicht auch erfunden hat?) und was er auf seine Weise zu künstlerisch verdichtet, lebt auch von der Neugier des Lesers, die gern Kurioses sucht. Aber es ist darin immer etwas Denkwürdiges, etwas, das uns im Alltag womöglich nicht auffallen würde und das uns jetzt, aus der Realität kommend, über diese hinweghebt.
Was haben Antigone, Katharina II. und Hegel miteinander zu tun? „Warum steigen die Medusen so beharrlich seit Jahrmillionen zur Meeresoberfläche empor? Warum gehören gerade die „Pilotfische“ zu den „Wappentieren der Intelligenz“? Unser Denken ist so zielgerichtet, auf Effektivität bedacht, Alexander Kluge bringt es lächelnd aus der Spur.
Das sind so Bücher, die behältst du ein Leben lang bei dir und stöberst darin. Du steigst auf einen Dachboden und staunst.
Alexander Kluge: Zirkus/ Kommentar. u. Das Buch der Kommentare. Unruhiger Garten der Seele. Suhrkamp, 167 S. u. 387 S., , geb., Suhrkamp, 28 € u 32 €.