„Nur Scherereien mit den Ossis“
Maxim Leo erzählte eine fulminante Geschichte – witzig und untergründig ernst
Am Dienstag, dem 12. Juli 1983, ist es sehr heiß gewesen. In mehreren Städten Nordirlands gab es gewalttätige Auseinandersetzungen zwischen der protestantischen und der katholischen Bevölkerung. Auf der Nordseeinsel Pellworm ging das erste europäische Sonnenkraftwerk in Betrieb. Und angesichts des Milchüberflusses in der EG sollten nun auch bundesdeutsche Kinder von billiger Schulmilch profitieren. Schon zwei Wochen vorher hatten der bayerische Ministerpräsident Franz Josef Strauß und der Leiter der Abteilung Kommerzielle Koordinierung (KoKo) im Ministerium für Außenhandel der DDR, Alexander Schalck-Golodkowski, einen Milliardenkredit für die DDR vereinbart. Vieles ist geschehen, doch über eine Massenflucht per S-Bahn in den Westen findet sich nichts im Internet, was uns der Autor dieses Romans durchaus verständlich ist. In der DDR garantierte das MfS für strengste Geheimhaltung, und später sorgte Dr. Antje Munsberg als Leiterin der Abteilung Politische Planung im Bundeskanzleramt, mit ihren weitreichenden Verbindungen dafür, dass die vorher schon nicht registrierte Akte gänzlich verschwand. Wie hatte sich der Bundespräsident bloß so irren können, fragte sie sich, anlässlich von 30 Jahre Mauerfall ausgerechnet Michael Hartung zum Festredner vor dem Bundestag zu bestimmen?
Was hätte gewesen sein können, davon lebt der neue Roman von Maxim Leo. Es ist eine fulminante Geschichte, so lebendig, anschaulich erzählt, dass man meinen könnte, alles sei genau so geschehen. Plausibel, dass Hartung mit seiner kleinen Berliner Videothek in Geldnöten steckt – wer leiht heute schon noch Videos aus – und dass der Journalist Alexander Landmann dringend einen „Knaller“ braucht, zumal im Nachrichtenmagazin „Fakt“ Stellen gestrichen werden könnten. Der eine steckt die Banknoten ein und erzählt, zögerlich, will eigentlich bei der Wahrheit bleiben, und der andere fabuliert daraus einen Text, für den er später einen Reporterpreis bekommt. Es gab tatsächlich diese Weiche, über die S-Bahnzüge vom Bahnhof Friedrichstraße in den Westen fahren konnten, nachdem sie in der DDR repariert worden waren. Und dem Eisenbahner Hartung war der Sicherungsbolzen abgebrochen. Doch für das, was Alexander Landmann dann daraus machte, hatte er nur einen Kommentar: „Was für ein Scheiß!“
Unwillkürlich denkt man beim Lesen an den vielfach ausgezeichneten Spiegel-Journalisten Claas Relotius, der in der Überzeugung log, „es würde bei der Erzählform Reportage keinen Unterschied machen, ob alles 1:1 der Realität entspricht oder nicht“. Wie aus einer geschickt aufgeschriebenen Geschichte ein Mythos wird, der auf die Wirklichkeit zurückwirkt, zeigt Maxim Leo eher von der heiteren Seite. Widerstrebend zunächst, wächst Hartung in die Rolle hinein, die Landmann ihm auf den Leib geschrieben hat. Als „Held vom Bahnhof Friedrichstraße“ wird er umschmeichelt und verdient bald so viel Geld, dass er aller Sorgen ledig sein könnte. 127 DDR-Bürgern habe er den Weg in die „Freiheit“ geöffnet. Er widerspricht nicht mehr. Doch dann – so viel Zufall darf sein in einem Roman – begegnet ihm eine Frau, die damals als Kind in ebenjenem Zug gesessen hat.
Liebe und Gewissensbisse, gekränkter Ehrgeiz und das Verlangen nach Protektion von oben, bei der es ja immer auch um Geld geht – sehr genau leuchtet Maxim Leo in das verborgene Beziehungsgeflecht zwischen Persönlichem und Politik. Mit feiner Ironie beobachtet er den Bürgerrechtler Harald Wischnewski, der sich als Vorsitzender der „Stiftung gegen das Vergessen“ düpiert fühlt, weil nicht er die Rede vor dem Bundestag halten soll. Sorgsam Verborgenes erfahren wir von ihm ebenso wie von Holger Röslein, dem Leiter des „Dokumentationszentrums Unrechtsstaat DDR“, der von Wischnewski angestoßen, nun zu recherchieren beginnt. Er trifft auf Unstimmigkeiten, die unsereins auch schon aufgefallen waren, und wird schließlich bei Oberstleutnant Fritz Teubner, dem ehemaligen Sicherheitschef des Bahnhofs, vorstellig. Kapitel 17 ist ein Kabinettstück im Buch: Zwei Männer belauern einander und erkennen sich als ebenbürtig, wenn auch auf verschiedenen Seiten. Zwei Machtmenschen reden über Freiheit und Routine, trinken zusammen, sind irgendwann per Du und tauchen schließlich in eiskaltes Wasser.
Zwei Machtmenschen – viele Gestalten des Buches gehören zu dieser Spezies. Michael Hartung könnte als Berühmter in gewisser Weise zu ihnen aufsteigen, aber er hat gern seine Ruhe, schaut alte Filme, außerdem hat er seine Freunde und jetzt auch eine Frau, die er liebt. Was wichtig ist im Leben, auch darum geht es untergründig im Roman. Aber vor allem, das steckt schon im Titel, werden jene Klischees verlacht, über die sich Menschen im Osten lange schon ärgern. Dieses kränkende Gerede vom „Unrechtsstaat“, diese unablässigen Bemühungen, ihnen grobschlächtig andere Erfahrungen zuzuschreiben als jene, die sie in Wirklichkeit machten. Überaus witzig die Szenen, als Wischnewski, passend zum Anlass „30 Jahre Mauerfall“ in einer Grundschule auftreten soll und ihm der Kragen platzt. Und gar nicht witzig die eingangs erwähnte Dr. Antje Munsberg, die Wischnewski eiskalt den Unterschied zwischen der kleinen und der großen Wahrheit erklärt. „Die kleine Wahrheit mag hier in dem einen oder anderen Punkt nicht ganz stimmen. Aber die Große Wahrheit, die stimmt: das Gute siegt über das Böse. Das Recht über das Unrecht. Die Freiheit über die Diktatur. Am 12. Juni 1983 sind 127 Menschen aus den Fängen des Kommunismus auf den Boden de freiheitlich-demokratischen Grundordnung gelangt.“ Die Erwiderung von Holger Röslein, dass 120 von ihnen am selben Tag freiwillig in den Osten zurückkehrten, beantwortet sie mit der Bemerkung, ob seine vom Bund finanzierte Institution bei ihm noch „in den richtigen Händen“ sei.
Wie geht die Sache aus? Hartung will nicht mehr mitspielen und bekommt einen Leberhaken. Gorbatschow wird begeistert sein und Dr. Munsberg sich in ihrem Urteil bestätigt fühlen. „Nur Scherereien mit den Ossis.“ Dass Ost- und Westdeutsche „wie Geschwister sind, die bei geschiedenen Eltern aufgewachsen sind, dasselbe Blut haben, aber keine gemeinsamen Erfahrungen“, ist an sich ein guter Vergleich. Aber wenn die Scheidung so viel Hass hinterließ, das ein Elternteil dem anderen sogar die simple Anerkennung verweigerte und der Kampf auch nach dessen Tode weitergeht, dann bleibt auch bei den Kindern etwas zurück.
Maxim Leo: Der Held vom Bahnhof Friedrichstraße. Roman. Verlag Kiepenheuer & Witsch, 286 S., geb., 22 €.