Willkommen in meinem Literatursalon
Irmtraud_Gutschke

Lesen macht glücklich, weil es uns sagt, wer wir sind und wer wir sein wollen, weil wir über uns hinauswachsen, in fremder Haut erleben dürfen, was uns sonst verschlossen bliebe. Heutzutage scheinen wir ja in Informationen zu ertrinken und haben doch das Gefühl, dass uns Wichtiges fehlt. Was ich suche, sind Bücher, die in diesem Sinne nachdenklich machen, ja auch solche, von denen ein Leuchten ausgeht. Viele Jahrzehnte habe ich als Literaturredakteurin mit Hunderten, ja Tausenden von Texten zu tun gehabt, auch selber Bücher geschrieben. Die Neugier auf Neues will ich hier mit anderen teilen.

„literatursalon.online“: Stellen Sie sich vor, wir sind zusammen in einem schönen Saal, und Sie möchten von mir wissen, was sich zu lesen lohnt. Was interessiert Sie denn, frage ich zurück. Politische Sachbücher? Gute Romane und Erzählungen? Spannende Krimis? Bildbände, die man immer wieder betrachten möchte? Mit meiner Auswahl lade ich Sie zu Ihren eigenen Entdeckungen ein.

Irmtraud Gutschke

Wenn Sie mehr über mich erfahren wollen - meine Biografie, meine Bücher und Veranstaltungen - , schauen Sie auf meine Webseite www.irmtraud-gutschke.de

Byung-Chul Han: Infokratie

Was heißt da noch Wahrheit?

Informationsflut und Meinungsgerangel: Was die Digitalisierung mit uns macht und wie Philosophie in Corona-Zeiten von Nutzen sein kann

Von Irmtraud Gutschke

Wozu brauche ich Philosophie? Damit sich die Nebel lichten über der Welt ringsum, dieser Welt, die sich rasant verändert, so viel Explosives in sich birgt und dabei wie festgefroren scheint. Dauernd angetrieben, sind wir zugleich wie von einem Kokon umschlossen. Eine Unbekümmertheit ist uns abhandengekommen, und wir zweifeln, ob wir sie je hatten.

Die Digitalisierung vollzog sich lange schon, doch mit Corona drang sie noch selbstverständlicher ins Persönliche ein: Videokonferenzen, statt ins Büro zu fahren, online einkaufen und abends zur Ablenkung Streaming-Dienste nutzen. Dass Rechner und Smartphone speichern, wie wir uns verhalten? Wird so sein, doch erstmal nimmt man’s hin.

Prof. Dr. Byung-Chul Han, 1959 in Seoul geboren und lange schon in Deutschland lebend, ist nicht der erste und nicht der letzte, den die Folgen der Digitalisierung umtreiben. Das „Informationsregime“ als „Herrschaftsform“ kommt schon weitgehend ohne jene Unterdrückungsmechanismen aus, die für Disziplinarregime üblich waren und sind. Wir fühlen uns frei, alles scheint transparent. Aber: Die Transparenz „hat eine Rückseite. Der Maschinenraum der Transparenz ist dunkel.

Was viele ahnen und spüren, in schlüssige Formulierungen zu bringen, war Stärke dieses Philosophen auch in früheren Büchern (um die 40 auf Deutsch, und viel, viel mehr noch in anderen Sprachen). Nimmt man allein die bei Matthes & Seitz erschienenen Bände – „Müdigkeitsgesellschaft“, „Transparenzgesellschaft“, „Agonie des Eros“, „Im Schwarm“, „Palliativgesellschaft“, um nur einige zu nennen –, überzeugt seine Methode, von Wirklichkeitsbeobachtungen auszugehen. Wohl in ständigem Kontakt mit großen Geistern der Philosophiegeschichte, schließt er sich nicht ein in den Fachdiskurs. Er durchdenkt, was ihm auf der Seele liegt, und schreibt, wie es scheint, ohne Rücksicht, wie seine Kollegen es aufnehmen könnten. Ganz seinen Reflexionen hingegeben, sucht er für sich den präzisen Ausdruck und bringt Lesende genussvoll auf eigene Gedankenwege.

„Die Herrschaft des Informationsregimes verbirgt sich, indem sie mit dem Alltag ganz verschmilzt. Sie versteckt sich hinter der Gefälligkeit der sozialen Medien, der Annehmlichkeit der Suchmaschinen, den einlullenden Stimmen der Sprachassistenten oder der zuvorkommenden Dienstfertigkeit smarter Apps.“ Das Netz bietet gleichsam allen einen Platz, sich mit ihren Meinungen darzustellen. Es sieht so aus, als ob dadurch Privilegien gebrochen würden. Ein Demokratiegewinn? Wäre es so, woher rühren dann die Ohnmachtsgefühle, die Unversöhnlichkeiten zwischen Menschen in vergleichbarer sozialer Lage?

Es sind keine Klassenkämpfe mit der Forderung nach Umverteilung von Oben nach Unten. Im Gegenteil: Die da oben können ruhig ihr Ding machen, während die da unten mit sich selbst beschäftigt sind. Aber darum geht es im Buch nur am Rande. Auch die Konkurrenz im  Milieu der Kreativen, dieser Kampf um Aufmerksamkeit spielt kaum eine Rolle.

Byung-Chul Han geht der Frage nach, wie die Geschwindigkeit digitaler Medien sich auf unser Lebensgefühl auswirkt, wie sich der Alltag verändert, wenn wir gleichsam auf „Speed“ sind. Man schaut auf das Smartphone und hört einander kaum zu. Ausführliche, gar schwierige Texte zu lesen, stößt zunehmend auf Unwillen und Unvermögen, wenn das Häppchenwissen aus dem Internet für den Moment genügt. Auch wenn die Branche es nicht wahrhaben will, das Buch ist dabei, seinen Platz als Leitmedium zu verlieren. Das hat weitreichenden Folgen. Ein Zitat des US-amerikanischen Medienwissenschaftlers Neil Postman (1931-2003) trifft es genau: „In einer vom Buchdruck bestimmten Kultur zeichnet sich der öffentliche Diskurs in der Regel durch eine kohärente, geregelte Anordnung von Tatsachen und Gedanken aus.“ Die elektronischen Massenmedien aber, so Byung-Chul Han, „zerstören den von der Buchkultur geprägten rationalen Diskurs … Das Amüsement bestimmt die Vermittlung politischer Inhalte und untergräbt die Rationalität.“

Mit dem Ideal einer allseits gebildeten, harmonisch entwickelten Persönlichkeit sah sich die DDR als Erbin frühbürgerlicher Utopien. In der spätbürgerlichen Gesellschaft aber ist ein für den jeweiligen Arbeitsplatz ausreichender Bildungsgrad genug. Der Markt kommt mit „niedrigschwelligen“ Angeboten einem Massenpublikum entgegen, dem Emanzipation im Sinne von Kultivierung nicht mehr zugesprochen und abverlangt wird. Sogenannte Hochkultur ist Eigentum einer kleinen Schicht. Mit der Digitalisierung erreichte dieser Prozess eine Steigerung. Byung-Chul Han: „Der Beschleunigungszwang, der Informationen innenwohnt, verdrängt zeitintensive, kognitive Praktiken wie Wissen, Erfahrung und Erkenntnis.“

Denn: „Affekte sind schneller als Rationalität. In einer Affektkommunikation setzen sich nicht bessere Argumente, sondern Informationen mit größerem Erregungspotenzial durch.“ Im Sinne von Verkäuflichkeit begannen auch sogenannte Qualitätszeitungen mit visuellen Reizen zu punkten. Keine „Bleiwüsten“ mehr, statt dessen größere Bilder, die auch Schauwert haben sollten. Agenturen liefern sie entsprechend dem Trend, und Fotografen wissen, was gefragt ist. Dass Fotos im Zeitalter digitaler Möglichkeiten längst nicht mehr verlässlich sind, ja ein manipulierendes Potenzial besitzen, kommt Betrachtern oft nicht zu Bewusstsein. Es sei denn, Medien übertreiben in ihrer „pädagogischen“ Absicht. Dann schlägt das Pendel ins Gegenteilige aus. Zur Spaltung der Gesellschaft in Corona-Zeiten, so meine These, hat auch eine aufs Eindeutige forcierte Fernsehberichterstattung beigetragen.

Laut einer Forsa-Umfrage sind 71 Prozent der Bundesbürger wegen Corona schon einmal mit anderen in Streit geraten. 56 Prozent sogar mehrmals. Bei 85 Prozent der Befragten sei es um Impfpflicht oder
-verweigerung gegangen. In Berlin-Kreuzberg gibt es eine Beratungsstelle für Leute, die sich ich in der Konfrontation mit wirren Theorien von Angehörigen, Freunden oder Kollegen hilflos fühlen. „Veritas“ (Wahrheit) heißt sie. Was aber, wenn vermeintliche Wahrheiten einander gegenüberstehen?

Byung-Chul Han hat wohl recht: Diskurs ist Kommunikation und braucht die „Gegenwart des Anderen“. Ohne diese „ist meine Meinung nicht diskursiv, nicht repräsentativ, sondern autistisch, doktrinär und dogmatisch“. Gerade  DDR-Sozialisierte haben das erfahren. In Zeiten gesellschaftlicher Krise – die DDR- Führung fühlte sich permanent bedroht – lässt Ideologie ein Andersdenken kaum zu. Da bezog der Westen nicht zuletzt aus Meinungsfreiheit und -vielfalt seine Anziehungskraft. Ist diese am Verblassen, weil nur gelten soll, was richtig und geboten ist?

Es mag wohl stimmen, wie es im Buch heißt, dass ein wirklicher Diskurs das Vermögen voraussetzt, die eigene Meinung von der eigenen Identität abzutrennen und sich in andere hineinzuversetzen. „Die Menschen, die diese diskursive Fähigkeit nicht besitzen, halten krampfhaft an ihrer Meinung fest, weil sonst ihre Identität bedroht ist.“ Aber wird Identität nicht auch aus Überzeugungen gebildet? Wenn für mich der Reiz des Menschseins darin besteht, immer neue Erfahrungen zu machen, eigene Ansichten zu überprüfen, hinzuzulernen, ist das zu verallgemeinern? Was mir starr erscheint, ist für andere womöglich notwendiger Halt.

Dass „die Krise der Demokratie in erster Linie eine Krise des Zuhörens“ sei, wie Byung-Chul Han meint, ist eine Vereinfachung. Denn es klammert Herrschaftsverhältnisse aus. Aber dass ein „Kult des Selbst“ die Gesellschaft spaltet, ist unbestritten. Umso mehr, da selbstbezogene Individuen im Netz Möglichkeiten finden, sich mit Gleichgesinnten zusammenzutun. Solcherart „tribalistische Identitätskollektive“ lehnen dann jeden Diskurs, jeden Dialog ab. Es geht um Zugehörigkeit, Glaube und Bekenntnis. Die Gesellschaft zerfällt in unversöhnlichen Identitäten, zwischen denen keine Verständigung, ja nicht einmal eine „verbindliche Bezeichnung der Dinge“ mehr möglich ist.

Was heißt da noch Wahrheit? „Die digitale Ordnung schafft generell die Festigkeit des Faktischen, ja die Festigkeit des Seins ab, indem sie die Herstellbarkeit totalisiert.“ Unter den Bedingungen sozialer Spaltung, informiert und trotzdem orientierungslos, gleiten weite Teile der Bevölkerung in eine Parallelwelt des Ressentiments. Die Folgen sehen wir schon. Sie könnten noch gravierender werden.

Byung-Chul Han: Infokratie. Digitalisierung und die Krise der Demokratie. Matthes & Seitz. 91 S., br., 10 €.

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