Willkommen in meinem Literatursalon
Irmtraud_Gutschke

Lesen macht glücklich, weil es uns sagt, wer wir sind und wer wir sein wollen, weil wir über uns hinauswachsen, in fremder Haut erleben dürfen, was uns sonst verschlossen bliebe. Heutzutage scheinen wir ja in Informationen zu ertrinken und haben doch das Gefühl, dass uns Wichtiges fehlt. Was ich suche, sind Bücher, die in diesem Sinne nachdenklich machen, ja auch solche, von denen ein Leuchten ausgeht. Viele Jahrzehnte habe ich als Literaturredakteurin mit Hunderten, ja Tausenden von Texten zu tun gehabt, auch selber Bücher geschrieben. Die Neugier auf Neues will ich hier mit anderen teilen.

„literatursalon.online“: Stellen Sie sich vor, wir sind zusammen in einem schönen Saal, und Sie möchten von mir wissen, was sich zu lesen lohnt. Was interessiert Sie denn, frage ich zurück. Politische Sachbücher? Gute Romane und Erzählungen? Spannende Krimis? Bildbände, die man immer wieder betrachten möchte? Mit meiner Auswahl lade ich Sie zu Ihren eigenen Entdeckungen ein.

Irmtraud Gutschke

Wenn Sie mehr über mich erfahren wollen - meine Biografie, meine Bücher und Veranstaltungen - , schauen Sie auf meine Webseite www.irmtraud-gutschke.de

Lucy Fricke: Die Diplomatin

Deutsche Werte

Lucy Fricke über das abenteuerliche Leben einer „Diplomatin“

Von Irmtraud Gutschke

Rasant geschrieben, spannend zu lesen. Aber wie, dachte ich die ganze Zeit, würden wohl Berufskolleginnen und Kollegen das Buch aufnehmen? Würde es ihnen plausibel sein, wie die Diplomatin im Roman, zuerst Botschafterin in Montevideo, dann Konsulin in Istanbul, sich verhält? In Montevideo wird die Ich-Erzählerin mit einer Vermisstenanzeige konfrontiert. Ausgerechnet die Tochter einer einflussreichen Zeitungsverlegerin e ist verschwunden. Entführt? Kann, darf eine Botschafterin in diesem Falle zur Privatdetektivin werden? Nun wird einem die Diplomatin im Buch ja gerade deshalb sympathisch, weil sie so eigenständig ist, nicht bloß Telefonate führt, sondern gleich selbst das Heft in die Hand nimmt. Ihr Aktionismus gibt dem Buch Action. Und wenn sie in Montevideo scheitert, so viel darf verraten werden, vollbringt sie in Istanbul eine mutige Tat.

Dabei gönnt man ihr mit Fünfzig natürlich auch eine kleine Liebesaffäre. Aber wie kann sie wissen, wem sie vertrauen kann und wem nicht? Wie viele Regeln übertritt sie? Was alles hätte passieren können? Sie will „nicht einfach nur mitspielen“, das macht sie sympathisch

Sie hat Freunde im diplomatischen Dienst, Bedienstete, die alles für sie tun und denen sie blind vertraut. Man darf auch einen Blick hinter die Fassade der diplomatischen Vertretungen Deutschlands tun. Zu erfahren, wie es da aussieht und zugeht, dürfte ein Leseanreiz sein. Und das Buch hat ja auch eine feministische Komponente. Die Ich-Erzählerin – nicht aus wohlhabenden Kreisen stammend – behauptet sich in einer Männerdomäne. „Frauen wie ich standen unter keinem Schutz. Der kleinste Fehler konnte zum Verhängnis werden.“

Was es bedeutet, deutsche Wertepolitik im Konkreten ernst zu nehmen, davon handelt das Buch. Mit ihren moralischen Prinzipien kommt die Diplomatin vor allem in der Türkei in Konflikt. Sie will und muss deutsche Staatsbürger schützen, auch wenn diese mit türkischem Gesetz in Konflikt geraten sind. Man fühlt sich an den Journalisten Deniz Yücel erinnert, der Türkei-Korrespondent der WeltN24-Gruppe war und wegen angeblicher „Terrorpropaganda“ fast ein Jahr in der Türkei in strenger Einzelhaft verbrachte. Von „Terror“ ist dort ja immer dann die Rede, wenn es um Kurdisches geht. Da stehen die staatlichen Interessen der Türkei der proklamierten deutschen Wertepolitik gegenüber. Wobei letztere doppelte Maßstäbe hat. Bei Nato-Verbündeten wird auch einmal ein Auge zugedrückt, was Menschenrechtsverletzungen betrifft.

Dass türkische und deutsche Geheimdienste irgendwie zusammenarbeiten könnten, allein der Gedanke scheint der „Diplomatin“ skandalös. Welche fast schon unglaublichen Absprachen es sonst noch geben könnte in der Welt, kommt der Autorin nicht in den Sinn. Dass die Ich-Erzählerin, „erfahren und ehrgeizig“, den „Glauben an die Diplomatie“ verliert, damit wibt der Klappentext. Aber ein bisschen blauäugig ist sie doch, oder?

Lucy Fricke: Die Diplomatin. Roman. Claassen Verlag, 254 S., geb., 22 €.

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